normalzeit
: HELMUT HÖGE über Magie & Medien

„Think positive!“ (Henry Kissinger zu Helmut Schmidt)

Lange Schlangen vor der Ausstellung über Melancholie in der Neuen Nationalgalerie: „Heimweh nach der Vergangenheit und Apathie in der Gegenwart“ – so hat Wolf Lepenies dieses Stimmungstief in seiner Geschichte der Melancholie (1972) genannt. Sie galt einmal als durchaus erkenntnisfördernd: Nur die ergangenen Gedanken haben wert, meinte Nietzsche, Solschenizyn ergänzte: erst recht die erlittenen. Heutzutage rückt man ihr mit Antidepressiva zu Leibe. Mancherorts sogar mit städtebaulichen Maßnahmen – zum Beispiel in den Zürcher Arbeiter- und Rotlicht-„Kreisen 4 und 5“.

Dort leben viele Ausländer – und der Schriftsteller Al Imfeld, der von „wehmütigen Quartieren“ spricht. Mit den Jahren ist bei den Bewohnern die „Spannung zwischen dem Zuhause“ (Zürich 4 und 5) und „der Ferne“ (der Türkei zum Beispiel) gewachsen, während sie selbst gleichsam schrumpften, indem sie weiser, aber auch mutloser wurden. „Diese Wehmutsgefühle bündelten sich in den Schüsseln“, schreibt Al Imfeld – und meint damit die Parabolantennen auf den Balkonen, mit denen man griechische und türkische TV-Sender empfangen kann. Die Apathie in der Gegenwart und das Heimweh nach der Vergangenheit wird damit bis zur Erträglichkeit ausbalanciert, indem ihr Besitzer auf einer Zürcher Wohnzimmercouch sitzend Bilder, aus dem wilden Kurdistan etwa, empfängt.

Aber die Schweizer Stadtregierung sah in dieser quasi bio-logischen Vermehrung der Satellitenschüsseln eine gefährliche Tendenz beziehungsweise Eigenmächtigkeit und sprach von „architektonischer Verwilderung“ – die sie dann auf dem Verordnungswege auch sogleich eindämmte. Al Imfelds Nachbar holt seitdem seine Schüssel nur noch nachts heraus. Damit sich ihr Aufbau auch lohnt, kuckt er jetzt noch mehr Heimat-TV. Früher war die Melancholie ein zu viel an „schwarzen Säften“ – nun an schwarzen Kanälen. Das gilt auch für die Realheimkehrer: Feridun Zaimoglu, der seine Eltern in Kiel lange Jahre nur als „herbe Melancholiker“ erlebte, berichtet, dass sie inzwischen, da sie als Rentner wieder in der Türkei leben, „große Sehnsucht nach Deutschland“ hätten.

Wiewohl die südeuropäischen Ausländer in Berlin nicht derart ghettoisiert sind wie in Zürich, gibt es auch hier Wohnblocks und Bezirke mit hoher Schüsseldichte: „wehmütige Quartiere“ en masse. Die Zeitungsfotografen nehmen diesbezüglich meist den Schöneberger „Sozialpalast“ aufs Korn, wo sich drumherum ebenfalls „Ausländer-, Rotlicht- und Drogen-Milieu“ (der Spiegel) vermischen. Die Schüsseln sind dafür ein Indikator! Was in Zürich Sozialforscher auswerteten, „499 Parabolantennen allein an den städtischen Wohnbauten“, gilt hier als polizeiliches Indiz.

In Westberlin hat man schon immer eher staatssicherheitspolitisch als stadtästhetisch gedacht. So berichtet der seit 1969 in Kreuzberg lebende Hakan Ufakcan: „Damals durften die türkischen Mädchen abends noch nicht raus, höchstens mit ihrer Familie. Und wir als türkische Jungs durften nie in Diskotheken: ‚Nur für Deutsche!‘ hieß es immer. Dasselbe bekam man zu hören, wenn man eine Wohnung mieten oder in bestimmte Berufe rein wollte, handwerkliche zum Beispiel. Uns haben nur Industriebetriebe ausgebildet.“

Nun sind es anscheinend die Araber, die derart diskriminiert werden (zum Teil auch von Türken). Zunehmend werden sie von den Türstehern der Berliner Clubs abgewiesen. Begründet wird dies oft mit der „Nationalität“ der erwischten Taschendiebe, mit ihrem aggressiven Anmachen, Neigung zu Schlägereien und sowieso – wo sind wir denn?!

Anderswo wurden bereits regelrechte Treibjagden auf Araber veranstaltet: unter anderem in Guben, wo ein Algerier zu Tode kam. Seit dem 11. September sind sie die erste ethnische Gruppe in Deutschland, die in toto überwacht wird. Die Polizei ist inzwischen geradezu programmiert auf sie, was nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass sie sich statt von den „Tatort“-Kommissaren mehr und mehr von billigen US-Cop-Serien leiten lässt.

Für die in Berlin lebenden Türken ist damit die Melancholie nicht aus der Welt. Unter türkischen Ärzten kennt man das Gefühl des Dezentriertseins: ein Verlust der Mitte, genau in Nabelhöhe. Was die deutschen Ärzte mit Schmerztabletten behandeln, ist die in Heidelberg praktizierende türkische Ärztin Emy Cohn mit einem kleinen Rundholz angegangen. Dabei wird der Nabel massierend wieder mittig. Emy Cohn schrieb darüber ihre Doktorarbeit. Ich erwähne das nur, um damit zu sagen, dass die große Melancholieausstellung „das Thema“ grad mal angerissen hat.