die taz vor zehn jahren zum streit um daniel jonah goldhagens buch „hitlers willige vollstrecker“
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Zunächst einmal überrascht der Hype: Goldhagens „überwältigende Beweise“ (Elie Wiesel) für die doch wohl nicht so taufrische These von der deutschen Kollektivschuld bestehen im wesentlichen aus einer Aneinanderreihung von Anekdoten.

So zitiert er etwa in romanesker Breite Beschwerden aus dem zeitweise in Polen stationierten Polizeibataillon 101 über die schwangere Ehefrau eines Polizisten, die sich gescheut habe, einer ganztägigen Tötungsaktion auf dem Marktplatz von Miedzyrzec beizuwohnen. Abgesehen davon, daß es über dieses Polizeibataillon schon ausführliche, solider wirkende Untersuchungen gab (Christopher Browning, „Ordinary Men“, 1992) – die leicht angewiderten Auslassungen Goldhagens über schwangere deutsche Nazifrauen gehören eher in das Arsenal der Nazi- Scum-Ikonographie von Billigvideos, in der sie dann immer Hilde oder Else heißen.

Man hat den Eindruck, der Antisemitismus werde hier eher beschworen als untersucht. Interessant ist an dieser Publikation ausschließlich ihre Rezeption: Einen quasi genetisch transferierten und entsprechend „in Fleisch und Blut übergegangenen“ Antisemitismus, der eigentlich ganz gut ohne sozialen Kontext auskommt, als einzigen Motor der Vernichtungsmaschinerie auszumachen erlaubt auch, ihn als permanente, wenn auch latente Drohung zu charakterisieren.

Was aber die Hamburger Zeit geritten haben mag, dieses Machwerk mit dem Startschuß für einen „neuen Historikerstreit“ zu versehen, lohnt einen Moment verwunderten Nachdenkens. Es ist die zur Flagellanten-Geste verkommene Selbstbezichtigungsrhetorik, der die komplexen Ergebnisse der traditionellen Antisemitismusforschung aus Berlin, Hamburg, Frankfurt zu dürr, zu kühl, zu soziologisch, zu systemisch und temporär sind. Erst die Dämonisierung deutscher Innenansichten liefert das rechte Maß an Scham, Schicksalsmacht und Zerknirschtheit, das hier offenbar noch immer gebraucht wird.

Mariam Niroumand, taz vom 13. 4. 1996