ENDLICH MAL RAUS, ENDLICH MAL RUHE. ABER AUCH IN SCHWEDEN GIBT ES HOCHPROZENTIGES UND HORRORFILME: Die Hölle, das sind nicht die anderen
MARTIN REICHERT
Du bist noch viel zu jung, um deinen Urlaub in einem Haus im Wald zu verbringen“, beschied mir jüngst die Mutter eines guten Freundes, mit dem ich gerade eine Woche Urlaub gemacht habe. Wir, vier Vierzigjährige, hatten eine Woche in Småland verbracht. In Schweden, dem Sehnsuchtsland der Regressiven und Repressiven. Repressiven? Nun ja: Streng überwachte Tempolimits auf den Straßen. „System Bollagets“, von uns stets als „Alkoholikerfachgeschäft“ bezeichnete Spezial-Stores für Hochprozentiges, also aus schwedischer Sicht alles, was jenseits von 3,5 Prozent Alkohol liegt. Und daneben hyperteurer Tabak natürlich.
Und regressiv? Nun: Bullerbü, Michel aus Lönneberga, Pipi Langstrumpf oder Ronja Räubertochter. In dieser Gegend Schwedens sieht es aus wie im Kinderbuch. Nicht umsonst heißt der Kinderbetreuungsbereich beim Einrichtungshaus Ikea „Småland“.
Ein idealer Ort also für großstadtgeschädigte Vierzigjährige mit Tinnitus. Ewig rauschen in Südschweden nur die Wälder. Und es gibt so wenige Menschen, dass sie einander stets grüßen, wenn sie sich irgendwo in der Einsamkeit begegnen. „Hey, hey“, rufen sie und winken. Schwule gibt es auch keine, oder genauer: Nur einen einzigen im Umkreis von fünfzig Kilometern, wenn das Dating-Portal Grindr recht hat – in der Türkei wurde Grindr gerade von Staats wegen abgeschaltet, um den schändlichen Umtrieben der Bevölkerung Einhalt zu gebieten. In Småland ist das mangels Masse gar nicht nötig.
Ruhe also, nichts als Ruhe. Bäume, Pilze und theoretisch auch Elche. Ansonsten absolute Übersichtlichkeit der Verhältnisse. Die Häuser sind entweder rot oder gelb, man fährt entweder Volvo oder Saab. Herrlich. Und was haben wir aus dem Paradies gemacht?
Nachdem wir die mitgebrachten Alkoholvorräte aufgebracht hatten, also gleich nach dem ersten Abend, landeten wir jeden Tag bei „System Bollaget“, um Unmengen überteuerten Wein zu kaufen. Und Tabakbeutel für zwanzig Euro. In dem von der Welt abgeschiedenen gemieteten Bullerbü-Haus mit den bunten Wänden und den vielen Lampen gab es WLAN, also wurde rund um die Uhr gedaddelt, gefacebooked und gestreamt. Überall Endgeräte, in der Küche, im Wohnzimmer, in den Schlafzimmern. Pling, klick, schwusch, plög, klick, pling.
Auf den einsamen, nicht überwachten Waldstraßen wurde mit dem BMW gerast wie auf der A 2. Einmal, man traut es sich kaum zu sagen, fuhren wir mit dem Auto sogar Pilze suchen. Im Schritttempo über den Waldweg, Fenster runter und stoppten, sobald ein Steinpilz in Sicht war.
Donnerstag Ambros Waibel Blicke
Freitag Meike Laaff Nullen und Einsen Montag Josef Winkler Wortklauberei
Dienstag Jacinta Nandi Die gute Ausländerin
Mittwoch Matthias Lohre Konservativ
Und Pipi Langstrumpf? Von wegen. Allerabends wurden nach dem gemeinsamen Essen die finstersten DVDs angeschaut. Horrorfilme, blutige Krimis, melodramatisch-tragische Homo-Opern mit garantiert unglücklichem Ausgang. Danach kann kein Mensch mehr ruhig schlafen und der dunkle Wald dort draußen vor dem Fenster wird zu einem Hort von Axtmördern und Psychopathen.
Vielleicht waren wir für einen erholsamen Schwedenurlaub noch nicht reif genug.
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