Sprachgewaltige Kinogeschichte

THEATER Ungewöhnlich, unbequem und immer für eine Überraschung gut: Das Teatro de Ciertos Habitantes aus Mexiko-Stadt arbeitet im Kollektiv und ist mit einem revolutionären Stück heute auf Kampnagel zu sehen

Ein mitreißendes Theaterstück in der Tradition des japanischen Filmkommentierens

VON KNUT HENKEL

Claudio Valdés Kuri grinst breit: „Ja, das graue Automobil ist ein Juwel des mexikanischen Kinos und vielleicht haben wir dem Film deshalb unsere Aufwartung gemacht.“ Valdés ist Mexikos derzeit populärster Theaterregisseur, hat Humor und gemeinhin wenig mit der mexikanischen Revolution zu tun. „Wir sind zwar ein mexikanisches Ensemble, finden unsere Themen aber eher außerhalb des Landes und setzen sie mit einer mexikanischen Note in Szene.“

Sehr erfolgreich, die Truppe, die in der mexikanischen Hauptstadt ihr Studio mit angeschlossenem Ökozentrum unterhält, ist rund die Hälfte des Jahres unterwegs. Das sorgt auch für Inspiration, wie „Monster und Kastraten“ zeigt. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kastraten ist alles andere als ein mexikanisches Thema. In Mexiko-Stadt ist zwar kürzlich die Homoehe legalisiert worden. Ein Outing in der Provinz ist nach wie vor mit Risiken für Leib und Leben verbunden – kein guter Nährboden für ein im Barock angesiedeltes Stück über die monstergleichen Wunderknaben.

Für Theatergründer und Regisseur Valdés Kuri ist Mexiko jedoch nur die Basis und die Welt die Bühne. Schon sein „Theater der besonderen Einwohner“ ist vor allem eines: besonders. Feste Ensembles sind in Mexiko die Ausnahme; ein kleines Wunder, dass der 44-Jährige mit seinem Theater ein erfolgreiches Gegenbeispiel bildet. Dafür sorgt auch die Vielseitigkeit des Ensembles. Wie Valdés Kuri, der als Sänger, Bühnenbildner und Licht-Designer unterwegs ist, haben auch die anderen Mitglieder des Ensembles verschiedene Standbeine. Überaus wichtig in Mexiko, wo es nur eine sporadische Kulturförderung gibt.

Zudem legen die Mitglieder des Ensembles, die im Kollektiv arbeiten, Wert auf den Wandel. „Wir haben kein Interesse einen eigenen Stil zu kreieren, nehmen uns viel Zeit für die Entwicklung der Stücke und die Entwicklung neuer Positionen“, erklärt Valdés das Konzept. Entsprechend groß ist die Spannbreite zwischen den sechs Arbeiten, die das Teatro bisher vorzuweisen hat.

„Das graue Automobil“ gehört dabei zu den erfolgreichsten Stücken und basiert auf einem alten Kinohit von 1919. Damals – in den Nachwirren der mexikanischen Revolution von 1910 – sorgte die erste organisierte Verbrecherbande in Mexiko für beachtliches Aufsehen und zusätzliche Unsicherheit. Aus dem sechsstündigen halbdokumentarischen Kinostummfilm hat das Teatro ein mitreißendes Theaterstück in der Tradition des japanischen Filmkommentierens gemacht. Dabei spricht ein Schauspieler auf der Bühne die Personen im Film. Für zusätzlichen Drive sorgen neue Szenen und improvisierte Klaviermusik.

Der ist kaum nötig, das Stück ist brandaktuell. Auch hundert Jahre nach der Revolution ist die Frage nach der persönlichen Sicherheit omnipräsent.

■ Do, 22. 4. bis Sa, 24. 4., je 20.30 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20