die taz vor zehn jahren zum karadžić-dilemma der internationalen bosnien-politik
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Mit ihrem Boykott der heute in Brüssel zu Ende gehenden internationalen Geberkonferenz schadet die Führung der „Republika Srpska“ in Pale in erster Linie der Bevölkerung dieser bosnischen Teilrepublik. Nach ihrer erfolgreichen Kampagne zur Vertreibung von über 50.000 Serben aus der Region Sarajevo haben Radovan Karadžić und die anderen Kriegsherren, die unter Verstoß gegen das Dayton-Abkommen im Hintergrund weiterhin die Politik Pales bestimmen, auch diesen jüngsten Boykott gegen vernünftigere Kräfte unter den Serben durchgesetzt.

Diese Kriegsherren haben ihre materielle Beute längst ins Trockene gebracht. Von Hilfsgeldern sind sie nicht abhängig. Doch die Bevölkerung ist dringend auf die Finanzierung von Wiederaufbauprojekten durch die internationale Gemeinschaft angewiesen. Diese Finanzierung wird jetzt zwar nicht gestrichen, aber doch erst einmal verschoben. Damit verzögern sich der materielle Wiederaufbau und in der Folge auch der Aufbau von Vertrauen unter den Serben in die internationale Gemeinschaft sowie die Möglichkeit eines Zusammenlebens mit Muslimen und Kroaten in einem Staat. Und die Gefahr wächst, daß Karadžić’ Kalkül, das Dayton-Abkommen völlig zu zerstören und Bosnien-Herzegowina erneut in bewaffnete Auseinandersetzungen zu stürzen, letztlich aufgeht.

Aus diesem Dilemma kommt die internationale Gemeinschaft nur heraus, wenn sie Karadžić und Konsorten endlich aus dem Verkehr zieht. Doch in Washington, Bonn und den Hauptstädten der anderen politischen Garantiemächte des Dayton-Abkommens herrscht immer noch die Einschätzung, eine Festnahme zumindest der vom Internationalen Tribunal als Kriegsverbrecher angeklagten Personen durch die Ifor wäre die größere Gefahr für das Dayton-Abkommen. Spätestens am bosnischen Wahltag Mitte September dürfte sich dies als schwere Fehleinschätzung erweisen.

Andreas Zumach, taz vom 13. 4. 1996