„Die SPD hat sich aufgerieben“

Matthias Platzeck hat mit seinem Rücktritt gezeigt, dass sein Frühwarnsystem noch intakt ist, sagt Jürgen Leinemann. Der Journalist hat die „Droge Politik“ beschrieben und weiß, was die Bundespolitik von der Landespolitik unterscheidet

taz: Herr Leinemann, konnte ein erfahrener Politikkorrespondent erkennen, dass Matthias Platzeck zu weich für den Berliner Politikbetrieb ist?

Jürgen Leinemann: Das klingt mir schon in der Frage zu abschätzig. Doch habe ich immer geahnt, dass Matthias Platzeck sensibel genug ist, die Warnsignale seines Körpers nicht zu überhören. Das war ja keine Koketterie, dass er sich lange gegen Ämter in der Bundespolitik gesträubt hat. Er hat eben nicht wie die Westpolitiker über Jahrzehnte eine Hornhaut entwickelt, die gegen die Zumutungen der Politmaschinerie abhärtet.

Bringen Politiker aus dem Osten nicht die notwendige Erfahrung mit, die es in der Bundespolitik braucht?

Es geht dabei weniger um Erfahrung als um Abhärtung. Angela Merkel zum Beispiel hat Platzeck gegenüber den Vorteil, dass sie acht Jahre durch die Bonner Mangel gedreht wurde. Sie hat bittere Tränen vergossen, wenn sie – damals eine junge Umweltministerin – von Helmut Kohl zur Schnecke gemacht wurde. Doch hat sie in den Bonner Jahren eben auch genau hingeguckt, wie ein Machtapparat mit einer Person an der Spitze funktioniert.

Eine Landesregierung ist auch ein Machtapparat, und Platzeck ist seit 2002 Ministerpräsident in Brandenburg.

Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen Landes- und Bundespolitik: Der Druck in der Bundespolitik ist größer, und er ist anonym. Gerhard Schröder hat einmal aus seiner Zeit als niedersächsischer Ministerpräsident erzählt: Wenn es ein Problem gab, hat er eben den zuständigen Leiter der freiwilligen Feuerwehr oder den Dorfbürgermeister angerufen. Er kannte alle persönlich. In Bonn aber war alles bürokratisiert – der gesamte Kontakt nach außen wurde vermittelt. Platzeck kannte in Brandenburg jede Straßenlaterne mit Vornamen. Aber seine Partei, die SPD, ist ein Riesenapparat, indem sich Menschen aus allen Perioden mit Empfindlichkeiten, Verbindungen und Vorstellungen eingenistet haben, die jeden sabotieren, der etwas Neues will. Wie soll Matthias Platzeck, seit 1995 SPD-Mitglied, wissen, welche Sprengsätze etwa im mächtigen NRW-Landesverband lauern?

Also doch ein Ossi-Problem?

Nicht nur. Platzeck hat auch eine sehr viel labilere Gesundheit als andere Politiker. Es gibt nun einmal nicht so viele unverwüstliche Naturen wie Helmut Kohl oder Gerhard Schröder. Platzeck hat aber auch ein intaktes Frühwarnsystem. Er verarbeitet den Druck nicht durch emotionale Abspaltung, also seelische Verkümmerung, oder Depression. Sondern er reagiert körperlich.

Sie haben geschrieben, wie die Sucht nach Macht und Anerkennung Politiker ruinieren kann. Ist das persönliche Suchtpotenzial eine Voraussetzung für eine Karriere in der Politik?

Nicht grundsätzlich. Erst einmal unterscheiden sich Politiker von anderen Menschen nur durch ihr Umfeld: Die Gefährdungen sind in der Politik größer als im normalen Leben. Aber auch im normalen Leben suchen sich viele eine Droge als Ersatz für Sinn – sei es Fußball, Sex, Mutterliebe … Der Politiker sucht sich als Droge eben die öffentliche Bedeutung. Dieser Droge entkommt er meiner Überzeugung nach nur, wenn er sich seine Zeit souverän einteilt. Er sollte sich ein Privatleben erhalten. Und er braucht Hobbys, Interessen, die das Übergewicht der Politik in seinem Leben relativieren.

Ein Politiker, der nicht Tag und Nacht an der Macht feilt, hat einen Wettbewerbsnachteil.

Stimmt. Aber es gibt auch Politiker, die sich einen souveränen Umgang mit der Zeit zu erhalten scheinen. Angela Merkel zum Beispiel hat offenbar ein ganz eigenes Zeitmaß. Sie tickt einfach anders. Zum Beispiel Gerhard Schröder reagierte immer aus dem Augenblick heraus. Dadurch war er möglicherweise auch einmal schneller als andere, aber er blieb ein Getriebener des Moments, des Vorgegebenen. Merkel dagegen scheint vom Ende her zu denken, das Heft des Handelns in der Hand zu behalten. Wobei diese Eigenschaft derzeit auch in eine Kontrollsucht umzuschlagen droht – also einen Souveränitätsverlust.

Wir wissen jetzt von Peter Strucks Schlaganfall, von Franz Münteferings Schwächeanfall, von Matthias Platzecks Nervenzusammenbruch. Warum fallen CDU-Politiker eigentlich nie vom Podium?

Die West-SPD-Spitzenpolitiker gehören zu einer Generation, die sich 16 Jahre in der Opposition gegen Helmut Kohl aufgerieben und sich dabei intern unermüdlich gegenseitig bekämpft hat.

Die meisten sind absolute Einzelkämpfer, für die ist Solidarität nur Dekoration. In der CDU dagegen hat Kohl alle Vertreter dieser Altersgruppe ausgesessen. Von denen ist schlicht kaum einer mehr da – außer Wolfgang Schäuble. Wie widerstandsfähig aber die Jüngeren sind – Christian Wulff, Roland Koch, Ole von Beust –, das werden wir erst noch sehen. INTERVIEW:
ULRIKE WINKELMANN