Abgründe einer Familie

Ayhan ist unreif und beeinflussbar, sagt der Gutachter. „Er hat sich überschätzt“

VON SABINE AM ORDE

Der Mord an Hatun Sürücü ist zum Symbol geworden. Zum Symbol für die Existenz von Parallelgesellschaften, in denen der Rechtsstaat nichts gilt. In denen muslimische Frauen unterdrückt und zwangsverheiratet werden und mit dem Tod bezahlen müssen, wenn sie sich den Regeln der Männer nicht unterwerfen. So wie Hatun Sürücü.

Drei Kugeln schoss ihr jüngster Bruder Ayhan der 23-jährigen Deutschkurdin in den Kopf, weil ihm der selbstbestimmte Lebensstil seiner Schwester nicht gefiel. Das hat der inzwischen 20-Jährige zu Beginn des Prozesses im September überraschend gestanden. Er will die Tat allein begangen haben.

Doch Ayhan steht gemeinsam mit zwei seiner älteren Brüder vor Gericht. Der Staatsanwalt hat in seinem Plädoyer gefordert, alle drei wegen gemeinschaftlichen Mordes zu verurteilen. Lebenslänglich könnte das für die beiden älteren heißen, eine Jugendstrafe von maximal zehn Jahren für Ayhan. Die Tötung der Schwester sei eine „eiskalt geplante, eiskalt ausgeführte Tat“ gewesen, die die drei Brüder gemeinsam begangen hätten, sagt der Staatsanwalt. Die beiden älteren Brüder bestreiten jede Beteiligung. Ihre Anwälte fordern Freispruch.

Heute verkündet das Gericht sein Urteil. Die große Frage dabei wird sein, ob es die beiden älteren Brüder schuldig sprechen wird. Die Öffentlichkeit scheint ihre Entscheidung darüber längst gefällt zu haben. Der Mord an Hatun Sürücü, ein Ehrenmord, eine Gemeinschaftsentscheidung der Familie, diese Einschätzung hört und liest man immer wieder. Der jüngste Bruder, der noch unter das Jugendstrafrecht fällt, musste sie ausführen. Durch sein Geständnis werden die beiden älteren Brüder geschützt. Eine, die diese These vertritt, ist die Soziologin Necla Kelek, die als Expertin für die angeblich gescheiterte Integration von Muslimen für Furore sorgt. „Ich denke“, sagte sie jüngst in einem Interview, „der Vater hat –vielleicht direkt, vielleicht unausgesprochen – seinen Söhnen bedeutet: Seht, was mir durch Hatun für eine Schande bereitet wurde. Ich muss leiden, tut was. Die Söhne haben dies wohl als Auftrag verstanden.“

Das kann stimmen. Doch dass es in diesem Fall zutrifft, hat der Prozess bislang nicht belegt. Niemand weiß, was bei den Sürücüs wirklich geschah – auch weil Richter und Staatsanwalt oft merkwürdig leidenschaftslos agieren und die Familie nicht vor Gericht aussagt.

Hatun Sürücü ist am 7. Februar 2005 in Berlin-Tempelhof in der Nähe ihrer Wohnung erschossen worden. Ihr damals fünfjähriger Sohn, der heute bei Pflegeeltern lebt, schlief zu Hause in seinem Bett. Arglos hatte Hatun ihren jüngsten Bruder nach dessen Besuch zur Bushaltestelle begleitet. Dreimal schoss dieser ihr aus nächster Nähe in den Kopf. Sogar als sie am Boden lag, sagt der Staatsanwalt, habe Ayhan noch einmal auf das Gesicht gezielt. Der 25-jährige Alpaslan soll die Schüsse in Hörweite überwacht, der 26-jährige Mutlu die Waffe besorgt haben. Niemand hat Alpaslan am Tatort gesehen, auch die Waffe wurde bislang nicht gefunden.

Der Staatsanwalt stützt sich im Wesentlichen auf die Aussage der heute 19-jährigen Melek A., die zum Tatzeitpunkt Ayhans Freundin war. Ihr hat Ayhan vor und nach der Tat von dem Mord an seiner Schwester erzählt. Und berichtet, dass er ihn gemeinsam mit Mutlu und Alpaslan begangen hat. Melek ist verliebt, sie erzählt niemanden davon, sie widerspricht Ayhan auch nicht. „Ich hatte Gefühle für ihn“, sagt sie später vor Gericht. Heute ist Melek im Zeugenschutzprogramm der Berliner Polizei. Sie lebt mit einer neuen Identität an einem geheimen Ort.

Das meiste weiß die junge Frau also vom Hörensagen. Ayhan bestätigt, dass er seiner Freundin von dem Mord erzählte. In einem Punkt aber will er gelogen haben: Die Brüder seien nicht beteiligt gewesen, sagt er vor Gericht. Nur bei einem Gespräch zwischen Ayhan und Alpaslan am Tag nach der Tat war Melek dabei. „Ich hab dir doch gesagt, ziel auf den Kopf“, soll Alpaslan dabei zu seinem Bruder gesagt haben. Und Mutlu habe sie nach der Tat im Zweiergespräch in der elterlichen Wohnung gedrängt, Ayhan ein Alibi für die Tatzeit zu geben.

Die Verteidiger tun alles, um Melek als unglaubwürdig darzustellen. Die junge Frau habe von den Mordplänen gewusst und die Tat nicht verhindert, so ihre Argumentation. Sie behaupten nicht, dass Melek lügt. Doch um ihr Gewissen zu entlasten, habe die junge Frau sich ein Mordkomplott zusammenfantasiert. Der Staatsanwalt setzt auf Melek, die seine Kronzeugin ist. Auch das Gericht scheint ihr zu glauben. Mehrfach lehnte es ab, die älteren Brüder freizulassen. Es bestehe weiterhin „dringender Tatverdacht“.

Mutlu, der mit langem Haar und Bart wie ein strenggläubiger Muslim wirkt, verfolgt den Prozess äußerlich sehr ruhig, beim Plädoyer des Staatsanwalts aber hält er sich die Ohren zu. Mutlu hat ein Studium der Betriebswirtschaftslehre abgebrochen, eine Lehre als Bürokaufmann angefangen, die Ehe mit einer Frau aus der Türkei scheiterte nach kurzer Zeit. „Bei mir geht alles nach einem Jahr in die Brüche“, sagt er vor Gericht. Bei der Bundeswehr beginnt Mutlu, der deutscher Staatsbürger ist, intensiv den Koran zu studieren. Später hat er Kontakt zu verschiedenen gewaltbereiten und inzwischen verbotenen islamistischen Gruppen, bei einem Aufenthalt in England hat er sich der Tabligh-Gemeinde angeschlossen, nach Angaben von Experten ebenfalls eine radikalislamistische Organisation. Über Aufenthalte in Pakistan oder Afghanistan gibt es Gerüchte, als der Richter danach fragt, schaltet sich Mutlus Verteidiger ein: „Ich rate von der Beantwortung ab.“ Nachfragen stellt der Richter nicht. Der islamistische Hintergrund der Brüder wird im Prozess kaum thematisiert.

Alpaslan scheint das Gegenteil von Mutlu sein, er wirkt impulsiv. Im Prozess springt er häufig auf, ruft dazwischen, beschimpft die Hauptzeugin als „Lügnerin“ und die Journalisten im Saal als „Arschlöcher“. Sich selbst stellt er als aufgeschlossenen Muslim dar, seine Frau trägt kein Kopftuch. Hatuns Lebensstil sei ihm egal gewesen, sagt Alpaslan in seinem Schlusswort vor Gericht. Sein Gutachter bescheinigt ihm einen IQ von 124.

Anfang März hat Ayhan versucht, aus dem Gefangenentransporter zu entkommen. Nach den Worten seines psychologischen Gutachters hält sich der ernst wirkende junge Mann für etwas Besonderes. Nachdem die älteren Brüder ausgezogen waren und sich der Vater häufig in der Türkei aufhielt, habe Ayhan die Rolle des Familienoberhaupts übernommen. Über lange Zeit habe er mit dem Gefühl gelebt, wegen Hatun etwas regeln zu müssen. „Er hat sich überschätzt“, sagt der Gutachter und beschreibt Ayhan als unreif, leicht beeinflussbar und streng religiös. Wie sein Bruder Mutlu hat er Kontakt zu islamistischen Gruppen gehabt.

Ayhans Verurteilung gilt als sicher. Kaum jemand aber traut sich eine Vorhersage darüber zu, wie das Gericht die Tatbeteiligung der beiden älteren Brüder einschätzen wird. Einen Hinweis hat der Vorsitzende Richter gegeben. Es könnte auch zu einer Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord kommen, teilte er den beiden Angeklagten gegen Ende des Prozesses mit. Das Strafmaß beträgt dann zwischen 3 und 15 Jahren. Über einen Fall mit schwieriger Beweislage zu urteilen ist schwerer als über ein Symbol.