Sapprament

ZUKUNFT Wer sind wir – und wenn ja, wozu? Die Frage stellt sich für die Grünen nach einer Bundestagswahl, die krachend verloren ging. In den Ländern glaubt man Antworten zu haben, speziell im Baden-Württemberg von Winfried Kretschmann. Oder braucht es eine neue Gründergeneration?

AUS BERLIN PETER UNFRIED

Trulla, trulla, trullala. In der baden-württembergischen Landesvertretung am Berliner Tiergarten dröhnt einer der Identitätssongs dieser erstaunlichen Weltwirtschaftsmacht aus den Lautsprechern. Der Song heißt „Auf der schwäbsche Eisebahne“, enthält viel Trullala und endet mit dem legendären Flüchle: „Himmel, Schtuegert, Sapprament.“ („Schtuegert“ ist die Hauptstadt.) Dazu werden am Abend der Bundestagswahl Linsen mit Spätzle serviert sowie ein trinkbarer Württemberger Lemberger und badischer Spätburgunder.

Mittendrin im schönsten Trullala: der Ministerpräsident.

Es ist gar keine Frage, dass er glänzend dazu passt. Habituell. Das ist ein Grund, warum der Intellektuelle Winfried Kretschmann, 65, in Stuttgart regiert. Und ein Grund, warum die regierenden Baden-Württemberger Grünen vom Gros des Berliner Spitzenpersonals immer, sagen wir es höflich, skeptisch betrachtet wurden.

Trulla, trulla, trullala statt „Keine Macht für Niemand“ – dafür hat man diese wunderbare Partei doch damals nicht gegründet. Dachte man.

Wer sind wir – und wenn ja, wozu? Das ist die Frage, die sich die Grünen nach einer Bundestagswahl stellen, die man „krachend“ verloren hat, wie es in der Partei heißt. Die Linkspartei hat mehr Prozente verloren, die FDP kämpft ums Überleben, doch das sah man seit Jahren kommen. Aber wie haben die Grünen es geschafft, ihren Status als Beinahe-Volkspartei zu verspielen? Scheinbar im Zentrum der Gesellschaft angekommen, mit stabilen 15 Prozent im Bund und 28 Prozent Zustimmung für Kretschmann im Land, sind sie wieder auf Kleinparteienniveau und 8,4 Prozent zurückgeschrumpft.

Man hat auf ein totes Pferd gesetzt – Rot-Grün. Zumindest das ist den meisten klar nach dem mittlerweile dritten gescheiterten Versuch und acht verlorenen Jahren. Aber reicht es, dass sich die verdiente Gründergeneration mit Jürgen Trittin, Renate Künast, Claudia Roth und Volker Beck – alle Protagonisten der sieben rot-grünen Regierungsjahre 1998 bis 2005 – mit allen Ehren aus den Spitzenämtern verabschiedet? Braucht es künftig „mehr Länder“, wie jetzt in Teilen der Partei gerufen wird, mehr ökologische Wirtschaftspolitik, mehr Wärme und weniger Trittin, kurz mehr Kretschmann? Oder braucht es eine neue Gründergeneration?

Ein paar Kilometer entfernt von Trullaland liegt Berlin-Kreuzberg, das grüne Sozialtransferparadies des guten Stimmenkönigs Ströbele. Hier in der hippen Columbiahalle, wo auch Bushido auftritt, müssen die Grünen am Sonntagabend mit ihrer Niederlage umgehen. Die meisten sind angemessen bedröppelt. Manche fast verzweifelt. Nur die Parteivorsitzende Claudia Roth lässt sich nicht mehr beirren und jubelt über das Elend der einzigen Minderheit, der es noch schlechter geht als den Grünen: das der FDP. Kretschmann ist dort nicht zu sehen. Er geht von ARD zu ZDF und SWR und gibt der Partei das Wording vor. Es müsse „schonungslos analysiert“ werden. Man habe speziell bei den Steuerplänen „Maß und Mitte verloren“. Andere klinken sich umgehend ein. Schnell wird klar, „schonungslos“ ist der Terminus, um den Personalwechsel in der Spitze anzuregen.

Noch in der Wahlnacht treffen sich die sechs bisherigen Berliner Spitzen-Grünen im Jakob-Kaiser-Haus in Mitte und vereinbaren, der rücktrittshungrigen Partei zunächst den Abgang der gesamten Parteiführung um Roth und Cem Özdemir zu servieren. Dass die langjährige Fraktionsvorsitzende Renate Künast es auch gut sein lassen wird und muss, ist ohnehin klar. Die große Frage aber ist, was Jürgen Trittin macht. Der gerade noch unumstrittene Anführer der Partei hat den gesamten Matchplan entworfen und die Partei dafür verändert. Nun hat sich, was er als sein Meisterstück angelegt hatte, als rot-grüner Illusionswahlkampf ohne Perspektive erwiesen.

Auch die Parteilinke hat umdisponiert

Einerseits ist klar, dass etwas Neues nur beginnt, wenn Trittin Geschichte wird. Andererseits haben alle Respekt vor ihm – und einige Angst. Tenor am Montag: Er muss weg! Aber was ist, wenn er nicht will?

Am nächsten Tag rücken angstfreie Schwergewichte von außen an: Joschka Fischer, früherer Außenminister und vor Trittin wichtigster Grüner aller Zeiten, nennt den „Linkskurs“ einen „fatalen Fehler“. Reinhard Bütikofer, Chef der Europäischen Grünen Partei, fordert offen den Wechsel an der Fraktionsspitze. Das hätte Trittin kaum erschüttert, wenn er beim Durchzählen der Fraktion noch eine Mehrheit gehabt hätte. Jeder, der ihn einigermaßen kenne, wisse, dass er niemals freiwillig gehe, heißt es.

Doch auch die Parteilinken haben umdisponiert. Am Dienstag, kurz vor 14 Uhr, gibt Trittin auf. Er twittert: „Ich werde für Fraktionsspitze nicht wieder antreten.“

An der Parteispitze will nun die Saarländerin Simone Peter die Nachfolge vonClaudia Roth antreten. Özdemir plant eine erneute Kandidatur. An die Fraktionsspitze will der Münchner Anton Hofreiter, Vorsitzender des Verkehrsausschusses und Stuttgart-21-Experte. Damit übernähme die Post-Rot-Grün-Generation. Die Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt, erst 47 und dennoch rot-grüner Altkader, interpretiert ihre Kandidatur für die Nachfolge von Künast als Übernahme von Verantwortung für das Ergebnis. Diese Logik teilen nicht alle. Ihre Gegenkandidatin heißt Kerstin Andreae, ist 44 Jahre alt und post-rot-grün. Sie steht für das umstrittene Wirtschaftsverständnis der Baden-Württemberger („partnerschaftlich“). Sie hat damit in Freiburg über 20 Prozent der Erststimmen geholt. Einer ihrer Unterstützer heißt Winfried Kretschmann.

Bisher ist die Geschichte zwischen den Grünen in Baden-Württemberg und denen im Bund keine Lovestory, sondern die einer politischen Differenz, aber auch des Leidens an der Missachtung des Regionalen und des kulturell Fremden. Es gab schon Parteiveranstaltungen in Berlin, auf denen der Ministerpräsident durchgehend „Wilfried“ genannt wurde. Und es gab Baden-Württemberger, denen das Entsetzen im Gesicht stand, als beim Parteitag Claudia Roth auftrat. „10-Prozent-Rede“, fluchten sie auf dem Parteitag im letzten November, als die langjährige Parteichefin aus ihrer Sicht wieder mal sämtlichen entrechteten Minderheiten dieser Welt ihre Solidarität aussprach; bis für die potenziellen Wähler im eigenen Land kein gutes Wort mehr übrig war.

Damals galten 10 Prozent noch als unvorstellbar. Als Worst Case. Jetzt ist es sogar noch schlimmer gekommen, und die baden-württembergische Regierungsgrünen – die Kretschmann 1979 mitgegründet und mit Wolf-Dieter Hasenclever, Rezzo Schlauch und Fritz Kuhn angesichts der Realität im Land früh als progressive und wertkonservative Partei entwickelt hat – hat es mitgerissen: 11 Prozent. Das ist bei allen Unterschieden zwischen Bund und Land wirklich eine „Deklassierung“, wie der CDU-Landesvorsitzende Thomas Strobl höhnte. Wenn die historische Abwahl der CDU nach 58 Jahren nur der Anfang einer Mehrheitsfähigkeit gewesen sein soll, kein historischer Unfall, muss jetzt auch etwas im Bund passieren. Das ist die Erkenntnis der Stuttgarter Strategen.

Vielleicht ist die beste Zeit der Grünen aber auch „bereits vorbei“, wie die FAZ hofft. Was kann der Ministerpräsident dem entgegenhalten? „Meine Geschichte“, antwortet Kretschmann in seinem Stuttgarter Amtssitz am Telefon. „Das habe ich x-mal gehört, und es hat nie gestimmt.“ Dann holt er aus und skizziert eine grüne Zukunft, die getragen wird von einer zeitgemäßen Interpretation des grünen „Jahrhundertthemas“ Nachhaltigkeit – der ökologischen Modernisierung. Speziell auch der Wirtschaft.

Was ihm wichtig ist: Er hat ihn nicht bestellt, den Chor, der jetzt „Mehr Kretschmann!“ ruft. „Das ergibt sich daraus, dass wir in Baden-Württemberg mit unseren Kurs erfolgreich sind“, sagt er. Kretschmann hat zwar in den letzten 30 Jahren Hartnäckigkeit bewiesen, aber als Löwe gilt er nicht. Kein Vergleich zur Härte eines Trittin. Außerdem hat er genug zu tun.

Es geht ihm darum, dass die Regierungserfahrungen der Länder ernster genommen werden als bisher. Deshalb ist er bereit, sich deutlich stärker in der Bundespartei zu engagieren. Aber dafür müssen sich die Strukturen ändern. „Die Voraussetzung, damit ich das kann: Wir müssen ernsthaft erwägen, anstelle des bisherigen Parteirats ein Präsidium zu setzen.“ Der Vorschlag geistert neuerdings durch die Partei. Es sei nicht nachvollziehbar, sagt Kretschmann, „dass die Grünen, die regieren, in keinem Bundesgremium eingebunden sind“. In einem Präsidium könnten die Länder eine größere Rolle spielen und die sechs grünen Landesregierungen ihre Kompetenzen einbringen.

Auch Schleswig-Holsteins stellvertretender Ministerpräsident Robert Habeck unterstützt die Idee. „Die Länder und die Leute, die in Ländern in Regierungsverantwortung sind, stehen jetzt in der Pflicht, sich stärker im Bund einzubringen. Eine engere Verknüpfung ist zwingend nötig“, sagt Habeck. Er hat auch schon eine Wahl gewonnen (13,2 Prozent im Jahr 2012), sich aber anders als Kretschmann bisher keinem Parteiflügel zuordnen lassen.

Kretschmanns Analyse des verlorenen Wahlkampfes: Erstens sei man hinterher immer schlauer, zweitens habe man nach der Zäsur von Fukushima das „Jahrhundertthema“ in den Hintergrund gedrängt, sei aus der Mitte in eine Nische zwischen SPD und Linkspartei geschlüpft und habe einen traditionellen Lagerwahlkampf geführt, einen Steuerwahlkampf. Auch er hat diese „Orgie“ beim Parteitag durchgewinkt. Das war dann wohl falsch?

„Eine berechtigte, aber sinnlose Frage“, sagt er. „Ob es weniger ins Auge gegangen wäre, wenn ich als einziger Ministerpräsident der Partei in offene Dissidenz gegangen wäre, wüsste man auch erst, wenn man es probiert hätte. Ich glaube das aber nicht, darum habe ich es auch nicht gemacht.“

Es geht um den Mittelstand, der der Regierung in Stuttgart die Hölle heißgemacht hatte. Es geht um die Wirtschaft. In Baden-Württemberg haben die Grünen keine Angst, sich als „Partner“ der Unternehmen zu preisen, vor allem der mittelständischen. Sie passen sich willfährig der Wirtschaft wie auch der Mitte an, sagen die Kritiker. Wir bringen die ökologische Transformation der Wirtschaft voran, sagen die Baden-Württemberger.

Kretschmann sagt, es habe kaum einer jemals eine Wahl „gegen die Wirtschaft gewonnen“. Er sagt sogar noch mehr. Er sagt: „Deshalb war es gut, dass weder SPD noch wir Grüne mit Rot-Rot-Grün antreten wollten. Merkel wäre volle Kanne über die absolute Mehrheit geritten.“

Zu lange ließen sich die Länder marginalisieren

Er sei auch für Mindestlohn und könne das sehr wohl mitvertreten. Aber Wähler gewinnen könne man damit nicht. Für die These spricht, dass die Grünen jeweils etwa eine halbe Million Wähler an die SPD (Original) und an die CDU (Entfremdung) verloren haben. Einer sagt es so: „Kretschmann umarmt die Mitte, Trittin schnauzt sie an.“ Und wenn der scheidende Fraktionsvorsitzende nun sage, die Mitte sei einfach noch nicht so weit, dann habe er damit recht. Zu Zeiten des Kommunistischen Bundes sei das aber auch schon wahr gewesen. Die spannende Frage ist, was aus dem süffigen Bonmot folgt. Sagt man den zur CDU abgewanderten Menschen, dass sie bleiben sollen, wo der Pfeffer wächst?

In Berlin ist man trotz aller Rhetorik bis zu diesem Wahlergebnis eher nicht willens gewesen, vom Erfolg der grünen Landesverbände zu profitieren. Oder zumindest deren herausragende Regierungsmitglieder im Wahlkampf sichtbar aufs Podium zu stellen, Kretschmann ebenso wenig wie die stellvertretenden Ministerpräsidenten Habeck, Sylvia Löhrmann (NRW) oder Eveline Lemke (Rheinland-Pfalz). Logisch, sagt ein erfahrener Parteisoldat. Man habe gebrummt, der Kretschmann sei doch konservativ – und dann die Fernsehauftritte lieber unter sich aufgeteilt.

Stuttgart 21, Nuklearkatastrophe in Japan, die Eigenheiten der Schwaben und Badener, stets wurden und werden Gründe gefunden, warum das Wahlergebnis von 24,3 Prozent und das Modell der Volkspartei nicht übertragbar sei. Die Baden-Württemberger sehen sich an der Spitze der ökologischen Moderne und fühlen sich in Berlin behandelt wie Waldschrats aus dem schwäbischen Dschungel. Das hat Kretschmann lange gewundert. Heute ärgert es ihn. Seine Stimme ist jetzt rau und fängt an, sich zu überschlagen.

An diesem Samstag ist er beim Länderrat in Berlin. Dort dürfte er auf Zustimmung stoßen, denn Grüne aus anderen Bundesländern sehen das ähnlich. Nicht nur Tarek Al-Wazir hat einen Hals. Er hat bei der zeitgleichen Landtagswahl in Hessen dank des Bundestrends zum vierten Mal das Ziel rot-grüne Regierung verpasst. Aber die Frage ist: Reicht der Zorn?

„Die, die jetzt nach mehr Kretschmann rufen, waren ja alle verschwunden, als es um das Wahlprogramm ging“, sagt ein Anführer der rot-grünen Regierungsjahre. Das ist der Punkt: Die Exrealos und heutigen „Reformer“ sind in den letzten Jahren von den Parteilinken marginalisiert worden – und ließen sich das gefallen. Während sie untereinander murrten, traute sich nur der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, innerparteiliche Diskussionen anzuregen. Doch wenn er sich umdrehte, stand hinter ihm oft nur der bayerische Landeschef Dieter Janecek, der nun neu im Bundestag sitzt. Der Rest duckte sich weg. Als dann an Palmer ein Exempel statuiert wurde, wie man unter Trittin mit einem widerspenstigen Parteifreund umgeht, und er aus dem Parteirat gewählt wurde, war Totenstille im Karton.

Auch wenn die Ex-Trittiner sich gegen die auf das Steuerprogramm verkürzte Fehleranalyse verwahren und zu Recht auf den nahezu einstimmigen Beschluss verweisen – die Positionierung und Schonung der SPD problematisieren auch sie. Und alle rufen inzwischen wieder Green New Deal und Eigenständigkeit. Und Machtoption. Offenbar sitzt der Schock tief.

Aber ist Berlin deshalb bereit für „mehr Länder“?

Eine gute Frage für Anton Hofreiter, den Kandidaten für die Nachfolge Trittins als Fraktionsvorsitzender. Er empfängt in einem repräsentativen Büro, das ihm bisher als Vorsitzender des Verkehrsausschusses im Bundestag zustand. Er ist jetzt ein gefragter Mann, sein Smartphone produziert permanent neue Arbeit. Aber er nimmt sich die Zeit.

„Linker“ Kandidat will er nicht sein, er kandidiere nicht als Flügelvertreter. Hofreiter ist 43, sieht jünger aus, trägt die Haare lang, hat Humor und ein klitzekleines Grünen-Bäuchlein.

Also, sollen die Länder sich künftig mehr einbringen? „Das bietet sich an“, sagt Hofreiter. „Sie können ihre Erfahrungen im Regieren in den Programmprozess einbringen.“ Kurze Aber-Pause. Aber? „Wir müssen auch vor Ort Wahlen gewinnen.“

Die Baden-Württemberger fürchten, dass sich dafür im Bund einiges ändern muss.

„Kretschmann macht das super, wie andere auch, und bei den Grünen macht es die Mischung“, sagt Hofreiter.“

Man wird sehen, was das heißt.

In der Tat kämpft Kretschmanns grün-rote Regierung zur Halbzeit selbst mit den Mühen der Ebene. Sie hat nach den harten Stuttgart-21-Gegnern die potentiell grün wählenden Lehrer gegen sich aufgebracht. Auch die versprochene „Politik des Gehörtwerdens“ steckt noch in den Anfängen. Trotzdem, der Ministerpräsident ist extrem populär. „Winfried Kretschmann ist unsere Angela Merkel“, sagt sein Minister Alexander Bonde am Telefon. Er ist zuständig für Verbraucher und ländlichen Raum, und es ist offenbar sein Lieblingssatz. Er sagt ihn jetzt ständig. Klingt gut, weil die CDU damit gerade einen grandiosen Wahlsieg errungen hat. Aber auch heikel. Deshalb hängt er an, dass man auch im Bund wieder mit den Kernthemen Umwelt, ökologische Modernisierung und Gerechtigkeit konzeptionell mehrheitsfähig werden müsse.

Mehr Punk oder mehr Spießigkeit

Es wird spekuliert, dass Bonde für die Baden-Württemberger in den Parteirat gehen könnte, so es ihn weiterhin geben wird, um dort Länderregierungserfahrung einzubringen. Er gilt als Musterknabe eines aufgeklärten Folkloregrünen. Er trägt gern Janker und ist sogar mit einer CDUlerin verheiratet. „Ich bin Schwarzwälder“, sagt Bonde, „für mich ist oft das Folklore, was in Berlin passiert.“

Sein Ministerpräsident geht in die Kirche, ist im Schützenverein und hält kulturelle Zeichen und ästhetische Verortungen für gnadenlos überschätzt. Damit steht er im Gegensatz zum Kollegen Habeck, 43, der die Politik von Kretschmann schätzt, aber die Grünen nach wie vor mehr mit „Punk“ in Verbindung gebracht haben möchte. Also mit etwas, das kulturell und habituell über eine ordentliche Verwaltung hinausweist.

Dem Energiewendeminister vom anderen Ende Deutschlands ist aufgefallen, dass die verlorenen Grünen-Wähler „aus den urbanen Milieus stammen, in denen Geld verdient wird“. Wo im 21. Jahrhundert immer noch Punk zählt, aber eben auch Pinke. In der richtigen Welt grübeln auch aufrecht links sozialisierte Mitvierziger inzwischen, ob sie nicht lieber Geld hätten verdienen sollen – richtig viel oder zumindest genug. Und Habeck grübelt darüber, was es zu bedeuten hat, dass die Union mittlerweile – unbeholfen, aber entschlossen – zu den Toten Hosen schunkelt und sich auch sonst in der Außendarstellung rasant modernisiert hat. Einerseits gibt es offenbar auch dort eine Sehnsucht nach dem, was er Punk nennt. Andererseits, sinniert der Energiewende- und Deichbauminister, „müssen wir vielleicht unsere Angst vor der Spießigkeit verlieren und sehen, dass es auch Angenehmes in der Bürgerlichkeit gibt“.

Für ihn hat der Wahlkampf in seiner atemberaubenden Oberflächlichkeit und der Stigmatisierung der Grünen als piefige Verbotspartei gezeigt, dass es eben doch um Lebensstile gehe. „Wozu es die Grünen braucht, ist klar“, sagt er. „Die Frage ist, wie wir dieses Wozu verkörpern.“ Das heißt? „Kretschmanns Erfolg liegt darin, dass er als Typus verkörpert, dass man anders leben kann als Grüne und dennoch für grüne Inhalte stehen. Er lässt Lebensstilbevormundung als Person nicht zu.“

Bürger Kretschmann fährt mit seinem Daimler zum Daimler und skizziert die ökologische Moderne. Bayer Hofreiter ist zu Hause mit seinem Idiom so nah am Bauern wie mit seinen Inhalten. Plus: Seine langen Haare atmen den Geist der Freiheit. Und „Punker“ Habeck eröffnet derweil die Dithmarscher Kohltage mit einem lapidaren „Moin, moin“. Es geht nicht ums Besserwissen. Es geht um leben und leben lassen.

Bleibt die Frage, ob Kretschmann gegebenenfalls auch zu den Toten Hosen schunkeln würde? „Nein“, sagt der Ministerpräsident, „ich schunkle nur an Fastnacht.“

■ Peter Unfried, 49, ist taz-Chefreporter. Er trat einst bei Prunksitzungen auf und dachte, das sei Punk