Bremen sucht den Multi-Pultstar
: Die dirigierende Wollmilchsau

Der Film heißt „A Dream Debut“, der Hauptdarsteller Lawrence Renes, 25 Jahre alt. Thema des Doku-Streifens: Der internationale Karrierestart des Dirigenten mit dem Amsterdamer Royal Concertgebouw Orchestra, als spontaner Ersatz für den erkrankten Riccardo Chailly. Die Bremer fanden es ähnlich traumhaft, als der immer noch sehr jugendliche Malteser vor vier Jahren an die Weser kam, um die Leitung der hiesigen Philharmoniker zu übernehmen. Die brauchten frischen Wind, um 177 Jahre nach ihrer Gründung die Kurve zu kriegen: weg vom finanziell und stimmungsmäßig augehungertem „Staatsorchester“, hin zu einer frei agierenden GmbH mit Eigenbeteiligung.

Mit Renes schien auch ein passendes Pendant zu Daniel Harding gefunden, dem jung-dynamischen Twen an der Spitze der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen – einem hochrenommierten Reiseorchester, das auch vor Ort die Nase vorne hatte. Mit Renes sollte Boden gewonnen werden. Und da er auch optisch zum Popstar taugt, war die Hoffnung, mit ihm als Gallionsfigur ein nicht zuletzt jugendliches Publikum zu erobern, durchaus berechtigt. Jetzt aber wird sein Vertrag vorzeitig aufgelöst – „in allseitigem Einvernehmen“.

Hinter den Kulissen ist allerdings schon lange klar, dass Renes die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hat. Zumindest die nicht, ein „Generalmusikdirektor“ zu sein, also zuständig für das gesamtstädtische Musikleben. Jeder aufstrebende Dirigent lebt im Spagat zwischen permanenter Aufbauarbeit mit einem Orchester und der „Weiterbildung“ durch auswärtige Engagements. Renes allerdings gönnte seinem Standbein Bremen extrem wenig Bodenhaftung. Auch am Theater, wo er in Personalunion als Operndirektor verpflichtet ist, war nicht viel von ihm zu hören.

Um so größer sind die Erwartungen an den jetzt gesuchten Neuen. Über hundert haben sich beworben, mit einem letzten Probedirigat an Karfreitag sind vier (männliche) Kandidaten in die Endrunde gelangt. Alle sind mindestens 35 jahre alt, juvenile Über- und Wegflieger, also nicht dabei. Barbara Grobien von der Philharmonischen Gesellschaft wünscht, der Neue möge insbesondere die Jugendarbeit zur Chefsache machen, also am besten eine Art Simon Rattle sein. Der Musikdramaturg des Theaters wiederum, an dem das Orchester zwei Drittel seiner Arbeit leistet, erwartet die Weiterentwicklung des Sängerensembles – und Anwesenheit bei szenischen Proben. Symptomatisch für Renes‘ Kommunikationsloch mit der Regie war der absurde Streit um die musikalisch noch statthafte Lautstärke der Schüsse, die den letzten Akt des „Tannhäuser“ beenden. Erst ein Machtwort des Generalintendanten, dem zu Folge maximal mit einer Sechsmillimeter geschossen werden dürfe, rettete die Premiere.

Bleiben noch die Erwartungen der Musiker, die auch mit Renes‘ Vorgänger Günther Neuhold nicht recht glücklich wurden, beziehungsweise am Ende böse über Kreuz lagen. Der Neue müsse das Orchester „auch gesellschaftlich und politisch vertreten“, meint Vorstand Joachim Kluge. In der Tat stehen entscheidende Zuschussverhandlungen mit der Stadt an. Geschäftsführer Christian Kötter betont das „Mittragen“ der gerade entstandenen „Corporate Identity“. Schließlich stehen die Philharmoniker als bundesweit erste Orchester-GmbH mit privater Mehrheitsbeteiligung (Stadt und Theater halten zusammen nur 48 Prozent, Musiker und Philharmonische Gesellschaft jeweils 26) unter strenger Beobachtung. Immerhin kann der Neue davon ausgehe, dass seine Musik gehört werden wird: Die Abo-Zahlen haben sich seit der Privatisierung um ein sattes Viertel gesteigert, in der vergangenen Spielzeit wurden fast 10.000 Kinder und Jugendliche erreicht, auch ohne Renes. Insofern kann sich Bremer Wollmilchsau-Job lohnen. Henning Bleyl