„Ich brauchte mal Ruhe vor denen“

Der 16-jährige Manuel kehrt nach vierwöchiger Flucht freiwillig ins Geschlossene Heim zurück. Mit einer Forderung: Er will das Heim täglich verlassen, um eine Berufsvorbereitung zu beginnen. Die Sozialbehörde will das „prüfen“

von Kaija Kutter

Mittwochabend, 22 Uhr. Das Handy klingelt. Sozialarbeiter Ottfried von der Lancken aus Hamburg-Wilhelmsburg ist dran. Er habe den 16-jährigen Manuel G. bei sich, der vor vier Wochen bei einem Ausgang aus dem Geschlossenen Heim in der Hamburger Feuerbergstraße geflohen war. „Manuel hat beschlossen, dass es Zeit ist, zurückzukehren“, sagt von der Lancken. „Nur stellt er Forderungen und hätte deshalb gerne die Zeitung dabei.“

Eine halbe Stunde später treffen wir uns auf dem Parkplatz vor dem Ohlsdorfer Heim. Im Schutz der Dunkelheit führen wir im Auto ein kurzes Gespräch. Über die Feuerbergstraße, deren Heim unter anderem wegen des Einsatztes eines privaten Wachdienstes und der illegalen Vergabe von Psychopharmaka in der Kritik steht, wurde in der Hamburger Presse sehr viel geschrieben. Doch mit einem Jugendlichen, der dort lebt, können Journalisten normalerweise nicht reden. Also die Frage an Manuel, wie es ihm dort geht. „Man wird behandelt wie ein Tier hinter Gittern“, sagt er. „Es ist ein komisches Gefühl, so abgetrennt von den anderen Leuten.“ Warum er weggelaufen ist? „Damit ich wenigstens einmal Ruhe vor denen hab“. Mit „denen“ meint er die Heimerzieher, „die kommen sich vor, als wären sie besser“.

Acht Monate, von Juli 2005 bis März 2006, war er dort, davon „zwei bis drei Monate allein in Gruppe 1“, berichtet er. Das Haus war zeitweise nur mit sehr wenigen Jungen belegt, dass es zu dieser Isolation kam „weil keiner da war“. In dieser Zeit, so erinnert er, waren die Mitarbeiter des Wachdienstes „eigentlich immer für mich zuständig“. Selbst bei wenigen Ausgängen zum Arzt oder in die City, die ihm gestattet waren, seien sie „mit drei, vier Leuten losmarschiert“, was ihm „peinlich“ gewesen sei. Er habe es dann nicht mehr ausgehalten, sei bei einem der Ausgänge weggelaufen.

„Wichtig sind Manuels Forderungen“, unterbricht Ottfried von der Lancken das Gespräch. Der Junge sei in den vier Wochen seiner Flucht nicht straffällig geworden und habe damit bewiesen, dass er nicht „wie ein wildes Tier hinter Gitter gehört“. Manuel sei bei Freunden gewesen und hätte in der Zeit Kontakt zur Bürgerinitiative (BI) Wilhelmsburg aufgenommen, wo er eine sechsmonatige „Arbeits- und Berufsorientierung“, kurz ABO, beginnen könne. Von der Lancken: „Er wäre bereit, ins Heim zurückzugehen, möchte aber tagsüber das Haus verlassen und diese ABO machen.“ Denn damit hätte er eine Perspektive und müsste nicht nur „abhängen in der Zeit, die er noch bleiben muss“. Noch vier Monate dauert der einjährige „Unterbringungsbeschluss“, den ein Familienrichter verfügte, „nur weil sich angeblich keine andere Einrichtung fand“, wie von der Lancken erinnert. „Dabei würde ich ihn nehmen.“

Manuel steigt aus, raucht „noch eine Zigarette in Freiheit“, wie er scherzhaft sagt. Dann gehen wir den Fußweg entlang zum drei Meter hohen Gittertor. Ein Foto zu machen findet Manuel gut, auch sein Name soll ruhig ganz in die Zeitung. Optimistisch hebt er mit der Hand seinen blauen Rucksack hoch: „Ich will zeigen, dass ich mich beweisen kann.“

So posieren Manuel und sein früherer Betreuer Arm in Arm vor dem Tor. Er sei eigentlich schon „so was wie ein Opa für die Jungs“, erklärt der 66-Jährige später. Im Januar 2005 habe er Manuel als 15-Jährigen auf Bitten des Kinder- und Jugendnotdienstes (KJND) in seiner Wilhelmsburger Einrichtung aufgenommen, wo er mit vier Jugendlichen in einer Lebensgemeinschaft wohnte. Manuel hätte sich damals „gut bei ihm eingelebt“, allerdings hätte das städtische „Familieninterventionsteam“ (FIT) ihn schon im Visier gehabt und gedroht, ihn bei der nächsten Straftat ins Geschlossene Heim einzuweisen. Nachdem Manuel im Juni bei einem Ladendiebstahl erwischt worden sei, habe das FIT nicht mehr für seine Unterbringung bei von der Lancken zahlen wollen und die Einweisung „mit allen Mitteln“ betrieben. „Aber das“, so von der Lancken, „ist eine andere, abenteuerliche Geschichte“.

Die eilig eingepackte Kamera hat nur einen schwachen Blitz, deshalb versuchen wir auch ein Foto unter einer Laterne, im Blickwinkel der Überwachungskamera. Ob wir gesehen werden? „Das dauert, bis die uns bemerken, wir klingeln gleich“, sagt Manuel. Er möchte unbedingt Abzüge von den Fotos.

Nach ein paar Minuten bemerkt man uns doch. Ein Mitarbeiter der Securitas im Jogginganzug öffnet die Metalltür. Er holt zwei Erzieher. Von der Lancken wiederholt Manuels Forderungen. Er habe ein Schriftstück dabei, das belege, dass er bei der BI Wilhelmsburg anfangen könne. Er will dort morgens hingehen und abends zurückkommen, als eine Art Freigänger. Das entspreche doch auch den „Plänen des Senates“ für die bessere Wiedereingliederung der Jugendlichen, „oder?“, fragt von der Lancken. „Wir werden jetzt die Heimleitung informieren“, sagt die Erzieherin, bittet Manuel herein und schließt die Tür.

Von der Lancken wird seinen Schützling längere Zeit nicht sehen. Die Anwältin wird Kontakt halten. Vielleicht kann er ihn mal besuchen.

Sozialbehördensprecherin Katja Havemeister hat die Meldung über Manuels Rückkehr schon auf dem Tisch, als die taz am nächsten Morgen anruft. Es werde jetzt „in Gesprächen mit allen Beteiligten geprüft“, um was für ein Angebot der BI Wilhelmsburg es sich handle. Nein, ausgeschlossen sei es nicht, dass daraus was wird.