Ganz stark im Glauben

Die Deutschen schimpfen über die Kirche – sind aber die einzig wirklich gläubigen Wesen

Man sagt immer, die Deutschen glauben nicht. Das ist nicht wahr. Die einzig wirklich gläubigen Wesen sind die Deutschen. Aber wir glauben nicht klassisch. Wir gehen nicht in die Kirche. Das nicht. Im Gegenteil, wir schimpfen auf die Kirche, die Kirchensteuer, die verlogenen Pfaffen. Da kriegen wir einen roten Kopf vor lauter Zorn. Trotz deutschem Papst und Weltjugendtag. Und die Pfarrer in ihren leeren Kirchen, die schauen auch immer ganz traurig, als glaubten sie nicht. Dabei glauben die Deutschen, dass die Wände wackeln.

Bei uns, und nirgends anders, kann man lernen, was ein fester, zementierter, zugenagelter Glaube ist. Wenn wir glauben, dann glauben wir unerschütterlich. Wenn wir uns entschieden haben, zum Beispiel nach dem Mondkalender zu leben, dann leben wir nach dem Mondkalender, und das hart und kompromisslos. Dann glauben wir, dass der 26. April 2006 ein günstiger Termin ist, um die Betten zu lüften, und der 23. April ein I-A-Tag für eine Warzenbehandlung. Mit einer ähnlichen inneren Wohltemperiertheit glauben wir an die Wirksamkeit von Eigenbluttherapie oder bekämpfen mit beeindruckender Vehemenz die „Störfelder“ in unserem Körper. Es mag Ungläubige geben, die das als Schmu brandmarken. Wir glauben daran.

Glauben und essen, auch ein ganz großes Thema. Falsch essen ist eine Sünde. Daran glauben wir. Deshalb werden Mahlzeiten zu einem sakraler Akt mit ausgewählten Speisen. Wir können ganz feierlich, ja beseelt sein, wenn wir eine biologisch einwandfreie Dorade entgräten. Wir glauben gerne auch an chinesische Tees und deren verborgene Heilkräfte. Die Aufnahme der Tees erheben wir konsequenterweise zum quasireligiösen Ritual. Er soll uns entschlacken, reinigen, inwendig generalüberholen. Deshalb lassen wir den Tee vorschriftsgemäß neun bis elf Minuten ziehen, trinken dann schluckweise das übelriechende Getränk und achten mit einer Präzision auf einen genauen Ablauf, dass es dem Betrachter ganz mulmig werden kann. Aber es hilft. Wir glauben ja daran.

Ein weiteres Fundament ist unser Glaube an Regeln und Gesetze. Zum Beispiel an Verkehrsregeln. Wenn Vorfahrt ist, ist Vorfahrt, da kennen wir keinen Spaß, wenn 50 drauf steht, wird 50 gefahren. Es ist unser tief verwurzelter Glauben, dass auch Verkehrsregeln in einem kosmischen Gesamtzusammenhang stehen und deshalb befolgt werden müssen.

Wenn es von uns verlangt wird, können wir auch einen Glauben durch den nächsten ersetzten. In der gottlosen DDR glaubte man, alle Menschen seien gleich, was ein zutiefst romantischer Glaube ist, wie überhaupt unser Glaube eng mit der Natur, mit den tiefen romantischen Empfindungen verknüpft ist. Aber auch in der DDR war keiner gleich. Gegen Ende der DDR glaubten die meisten, dass es besser sei, Videorecorder und Marlboro zu besitzen. Als sie es besaßen, glaubten sie, dass es in der DDR ohne Videorecorder doch besser war. Gegen den Glauben ist eben nicht anzukommen. Kaum zu glauben.

CHRISTOPH SCHLEGEL