Als Lucios Zahnspange aufging

… und Olli Kahn sich ins Tier zurückschrie – Bayern München beendet die astrafarbene Herrlichkeit und schlägt St. Pauli mit fußballerischem Klempnerhandwerk im DFB-Pokalhalbfinale 3:0

von TOM SCHULZ

Ich gehe nicht auf den Kiez, wenn St. Pauli spielt. Schon gar nicht, wenn es gegen den FC Bayern geht. Schon gar nicht an einem Mittwochabend, wo ganz sicher in einer der unzähligen auf den Nachhausewegkneipen das Bier an ist und der Fernseher läuft. Als Kind war ich HSV-Fan und tue auch jetzt manchmal noch so. Wir hatten Kevin Keegan und Manfred Kaltz, davon kann St. Pauli nur träumen!

Doch wer am Mittwochabend das Spiel des Hamburger Drittligisten gegen den Klassenkrösus aus Bayern gesehen hat, wird danach mit allen erdenklichen Floskeln ins Bett gegangen sein. Hätten wir doch, wäre da nicht einer reingegangen, alles hätte ganz anders kommen können, ja müssen.

Doch wollen wir noch einmal dem Underdog auf die Schenkel klopfen und mit den dunkelbraunen Reeperbahnpiraten den Hohn auf das gesamte Establishment ausschütten. In Schutt und Asche wollen wir diese gesamte Geldschneiderliga legen mit der Brutalität eines Schmetterlings, der die Marktführer an den Zehen kitzelt, mit der Zärtlichkeit einer Dampframme, die noch einmal richtig zeigt, wo die Straße Fußball spielt und nicht der Werbevertrag, der Brustsponsor, das Dreißigmillionenangebot.

Die Bayern, so stand es zuletzt sogar auf den Fanseiten des ruhmreichen Grünwalder Edelklubs, sind eine charakterlose Söldnertruppe, die schlechteste Mannschaft, die jemals die Meisterschaft erringen musste, so wie wohl auch in diesem Jahr wieder.

Zurück zum Spiel. „So ’ne Scheiße“, meinte Helfried nach knapp 84 Minuten. „Greta, noch zwei Herrengedecke!“

Wenn man das Budget der beiden Vereine vergleicht, referierte plötzlich Klaus Jürgen, ist das wie ’ne Parkbank gegen ein Spielcasino.

„Etwas schiefes Bild, wa“, rief prompt die Bedienung, Greta von Trost. Das ganze Millerntor hatte gebebt, als Werder im Viertelfinale auf einem eisgefrorenen Acker nach Hause geschickt wurde, doch jetzt haben wir Mitte April. Und wer hatte auf diesem fast leichten Geläuf beinah gezaubert, dass Lucio die Zahnspange aufging und Olli Kahn sich ins Tier zurückschrie. Ach Unrecht, am Ende musste dann Helfried eben doch resümieren. „Immer diese Goliathe, pfui Teufel!“

Zurück zum allgemeinen Betrachtungsgegenstand: Dass es dem deutschen Fußball an der Leichtigkeit des Seins fehlt, wird ja oft kolportiert, stattdessen haben wir eine Handwerkertruppe, die sich durch das bevorstehende Weltturnier berserkern wird, wenn mir diese Abschweifung erlaubt ist. Die Schweinsteigers, Mertesackers, man muss sich nur die Namen auf der Zunge zergehen lassen, dann weiß man, es wird auch diesmal eine biederernste Angelegenheit des fußballerischen Klempnerhandwerks. So standen wir auch schon vor Seoul wie eine Fliesenlegerkolonne, die es bis ins Endspiel geschafft hat. Uns fehlt einfach die Kunst.

St. Pauli jedoch, du renitentes Weltpokalbesiegerchen aus dem Jahr 2002, du hast uns am Mittwoch noch einmal das Kinderherz hüpfen lassen, wir haben mit dir noch einmal zur ersten Sex-Pistols-Platte getanzt. Dass es keine Sieger mehr gibt, sondern nur noch Besiegte, wissen wir spätestens seit dem Studium der Werke Brechts aus dem zweiten Semester.

Die Fankurve, die Würstchenverkäufer, die Vorstandsetage, die Toilettenfrau, die Medien: alles Besiegte. Apropos Leitmedien, kann die jemand endlich abdrehen?

Aber muss denn wirklich immer alles dumm kommen und ebenso rumtiteln, dass der Schwachsinn Zwillinge kriegt? Wie das der Boulevard beleidigt ausrief: Klinsi killt Kahn. Oh Schund, töte uns alle! Oh St. Pauli, lass uns für immer dahinfahren in eine astrafarbene Herrlichkeit!

Fotohinweis: TOM SCHULZ wurde 1970 in der Oberlausitz geboren und lebt als Autor in Berlin. Letzte Veröffentlichungen: „Abends im Lidl“ (2004) und „Weddinger Vorfahrt“ (2005). Im Herbst erscheint „Das Berliner Kneipenbuch“ (herausgegeben mit Björn Kuhligk, Berliner Taschenbuch Verlag).