Brüder feiern Freispruch

Im Berliner Ehrenmordprozess kommen die älteren Söhne der Familie Sürücü davon. Die Beweise reichen nicht für eine Verurteilung. Gegen den Jüngsten verhängt das Gericht eine hohe Jugendstrafe

VON SABINE AM ORDE

Kaum hat der Vorsitzende Richter das Urteil verkündet, bricht im Saal B129 des Berliner Landgerichts vielerorts Jubel aus. Auf der Anklagebank hinter der dicken Glasscheibe reißt Alpaslan Sürücü die Arme in die Höhe, auf dem Platz der Nebenklägerin lacht seine Schwester Arzu erleichtert auf, im Zuschauerraum klatschen Verwandte Beifall. Eine Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten für den heute 20-jährigen Ayhan Sürücü hat Richter Michael Degreif gerade verkündet. Die beiden älteren Brüder Alpaslan und Mutlu aber spricht das Gericht frei. „Was bleibt, ist eine Möglichkeit, die man nicht wegwischen kann“, sagt Degreif später. „Aber hier wird keiner aufgrund einer Möglichkeit verurteilt.“

Alle drei Brüder waren des gemeinsamen Mordes an ihrer 23-jährigen Schwester Hatun angeklagt. Für die beiden älteren hatte der Staatsanwalt lebenslänglich gefordert, für Ayhan eine Jugendstrafe von neun Jahren und acht Monaten, was nur knapp unter dem Höchstmaß liegt. Das Gericht aber sieht es nur als erwiesen an, dass Ayhan im Februar vergangenen Jahres seine Schwester Hatun mit drei Schüssen in den Kopf ermordet hat. Die Tat hatte bundesweit eine Debatte über Zwangsheiraten, Ehrenmorde und Parallelgesellschaften ausgelöst.

Nach Ansicht der Richter musste Hatun Sürücü sterben, weil ihr jüngster Bruder den Lebensstil seiner Schwester verachtete. „Weil sie ihr Leben lebte, erschoss sie ihr Bruder, und das mitten unter uns“, sagt Degreif. Hatun hatte sich aus einer arrangierten Ehe mit einem Cousin in der Türkei getrennt, war schwanger nach Berlin zurückgekommen und wieder bei den Eltern eingezogen. Schließlich kam es zum Bruch: Mit ihrem Sohn zog Hatun aus, legte das Kopftuch ab, hatte Männerbeziehungen. Immer wieder aber habe sie eine Annäherung an die Familie gesucht, sagt der Richter.

Genau diese Annäherung sei der Auslöser für ihren Tod gewesen, denn Ayhan habe sie nicht zulassen wollen. „Die Tat war gedanklich lange geplant.“ Letztlich habe „eine Mischung aus überlieferten, traditionellen, fest verankerten Vorstellungen von Familienehre in ostanatolischen Familien“ und einem eigenen Islamverständnis zu dem Mord geführt. Ob Ayhan ihn alleine oder mit anderen Familienmitgliedern beschlossen habe, konnte das Gericht nicht feststellen.

Der Staatsanwalt hatte sich im Wesentlichen auf die Aussage der heute 19-jährigen Melek A. gestützt, die zur Tatzeit Ayhans Freundin war. Ihr hatte Ayhan vor und nach der Tat von dem Mord erzählt und dabei auch von der Beteiligung seiner beiden Brüder berichtet. Die junge Frau sei „im Prinzip eine glaubhafte Zeugin“, befand das Gericht. Doch weil sie ihre Kenntnisse fast vollständig vom Hörensagen habe, reiche dies für eine Verurteilung nicht.

Nach der Urteilsbegründung fallen sich die beiden jüngsten Töchter der Sürücüs vor dem Gerichtssaal in die Arme, Tränen fließen. Ein Berater der Familie spricht von einer „fairen Verhandlung“, das Vertrauen der Sürücüs in den Rechtsstaat sei gestärkt worden. Eine Pädagogin, die in Berlin-Kreuzberg mit Migrantenkindern arbeitet, sieht das anders. Sie fürchtet, dass manche Jugendlichen die Sürücüs nun als Helden feiern.