Die Lust des Torsos

Botho Strauß hat den „Titus Andronicus“ von Shakespeare zeitgenössisch übermalt. Elmar Goerden inszeniert mit Bruno Ganz im Bochumer Theater

AUS BOCHUMPETER ORTMANN

Gewalt ist eine schöne Sache. Sie macht Spaß und füllt manchmal auch den Magen. Noch schöner ist es, wenn man sich sicher fühlt, da man weiß, in der Uckermark sitzt jemand, der kann die Welt erklären. Alleswisser Botho Strauß ist beim jüngsten Stück zum Anstreicher geworden und hat mal eben Shakespeares „Titus Andronicus“ überpinselt, dies lustige Schlächterstück aus dem dekadenten Rom, das gesellschaftspolitisch schon da war, wo wir heute sind. Wer hätte das gedacht. Strauss transferiert den armen alten Feldherrn Titus also in die hartzige Welt, wo niemand für seine Schönheit ungeschoren an der Ladenkasse vorbei kommt. Oh, falsches Stück. Entschuldigung René Pollesch. Wir sind ja nicht in der Metropole Berlin, sondern nur noch in Bochum, zwar 2010 europäische Kulturhauptstadt. Aber mit einem gewalttätigen Theater?

Regisseur und Intendant Elmar Goerden inszeniert den heiligen Botho, nach dem Pariser Odéon-Theater (Uraufführung: Luc Bondy) und dem Berliner Ensemble (DE: Thomas Langhoff) auch noch mal. Schließlich hatte Schauspiel-Heroe Bruno Ganz den Text schon intus, war aber am BE irgendwie mit Claus Peymann nicht klargekommen. Und weil Elmar Goerden zum Einstieg in Bochum ja ausdrücklich erklärt hatte, nicht Matthias Hartmann zu sein und keine Titelrollen mit großen Namen besetzen zu wollen, produziert er mit der Begründung, von Strauß und Ganz gefragt worden zu sein, eben kein Paradoxon.

So ist das Haus schön voll und wartete auf den Untergang – nein, nicht Harald Schmidt. Vor Enttäuschung darüber, vielleicht aber auch nur aus Sauerstoffmangel in der ausgesprochenen Miefbude „Großes Haus“ waren am Abend zuvor zwei Zuschauer, wohl aus der Silberhaarfraktion, in Ohnmacht gefallen. Stolz warnte der Intendant also als Regisseur vor den gewalttätigen Bildern des von ihm verantworteten Massakers, genannt „Schändung“. Dummerweise fand er die Einführung selber dumm und sagte das auch. Doch warum stand er dann bloß da? Denn was kam, war eher geeignet, den Tod durch Langeweile zu finden, als durch Herzstillstand.

Einschub. Die verfluchte Plötzlichkeit der Entscheidung. Um nicht von umgürteten Plastiksprengstoff in die ewige Ohnmacht gejagt zu werden: Natürlich ist die „Schändung“ von Botho Strauß ein nettes Stück und Bruno Ganz ein sehenswerter Schauspieler. Natürlich ist die Gesellschaft um uns herum auf dem Weg in den Untergang, der oder die SozialräuberIn muss eben mit Scheiß-Skrupellosigkeit heimlich an der Kasse vorbei, nicht mit Schönheit. Doch warum diese Aufführung? Über einen Feldherrn Titus, der mal wieder siegreich zurückkehrt vom Gemetzel gegen die Goten, der aus Ehre und Tugend den tapfersten Sohn der gefangenen Königin Tamora, den Göttern sei natürlich Dank, nicht nur zerstückeln, sondern auch verbrennen lässt und damit die blutige Spirale der Racheakte in Gang setzt, die seiner Tochter Lavinia Zunge, Hände und Geschlechtsteile kostet. Dummerweise ist sie anschließend dauergeil auf ihren Schänder, was zwar eine interessante Wendung von Strauß, dem ollen Haudegen Titus aber nicht recht ist. Ergebnis: Der verliebte Torso muss für Vaters heilige Werte ins Messer.

Das macht den übermalten Shakespeare-Schinken aber nicht tagesaktuell. Schauen wir ins Fernsehen, wenn wir eine wahrhaftige Träne weinen wollen. Da finden die wahren Schlachtplatten ihre Bilder, in unserem Namen und auf unserer Rechnung. Verhungernde Kinder, während in Europa für Millionen der Bauernmarkt reguliert wird. Von den hingemetzelten Jugendlichen für fließendes Öl und freie Mafiageschäfte, genannt Globalisierung, gar nicht zu reden. Diese Mechanismen kannten eben schon die alten Römer und werden die Shareholder der Zukunft noch anwenden. Mit Gewalt wird schließlich die Welt regiert. Immer. Dafür braucht es keine extraleere Designbühne im Bochumer Schauspielhauses. Es reicht, in bekannte Stadtteile von Wanne-Eickel oder Duisburg zu fahren, auch wenn die europäische Kulturhauptstadt werden.

Die rohe „Schändung“ der privilegierten römischen Edeltochter eines privilegierten Feldherrn, der auch ohne Regung nach dem Gotenschlachten seinen 25. Sohn als Asche in die heilige Vitrine stellt, kann doch nicht wirklich erschüttern. Die Megapädagogik ist am falschen Ende. Und selbst wenn Botho Strauß die Rache elegant ins Leere laufen lässt, die Gewalt gehört nicht nur den Herrschenden, sie wurde den Unterdrückten nur sanft aus den Händen gewunden. Besitzstandsicherung heißt das Modewort. Und dagegen hilft keine kulinarische Inszenierung nebst Schauspielheroe mehr. Wer bei Theaterblut in Ohnmacht fällt, müsste vor dem Fernseher blitzschnell sterben.

So, 23. April, 19:00 UhrInfos: 0234-33335555