Unterschicht aller Nationalitäten

In Kirchdorf-Süd, der Wohnmaschine an der Autobahn, haben engagierte Sozialarbeiter und Investitionen ins Wohnumfeld einiges bewirkt. Was bleibt, sind Arbeitslosigkeit und Langeweile

Von Jan Kahlcke

Es ist die Wohnmaschine auf der grünen Wiese: Kirchdorf-Süd, der Stadtteil mit dem ländlichen Namen und den großen Blocks. Am Straßenrand traben ein paar Fohlen. Aus dem neunten, zehnten oder elften Stock sehen die Leute auf sie herab wie in eine andere Welt. Ein Grundrauschen von der A1 hängt in den Straßen, Tag und Nacht.

„Ich wohne gern hier“, sagt der Mann, den wir Anton nennen sollen. Kirchdorf-Süd ist seine Heimat, seit er vor fast einem Vierteljahrhundert mit fünf Jahren aus der Türkei kam. „Man muss doch hier leben“, sagt er immer wieder, „und eigentlich ist es auch gut hier.“ Nur zu viele Ausländer seien es geworden in den letzten Jahren. „Die Politiker stopfen sie alle hier rein.“ Die Neuen würden sich abkapseln. Er, der Türke, sagt das.

Er fühlt sich wie ein Deutscher und spricht auch so, „besser als viele Deutsche“, scherzt er. Aber in letzter Zeit denkt er manchmal über seine Herkunft nach. Der gelernte Maurer ist seit vier Monaten arbeitslos, mal wieder. Er stellt sich am liebsten persönlich vor, dann können die Arbeitgeber sich überzeugen, dass er ein anständiger Mensch ist – aber es hagelt Absagen. „ Vielleicht liegt es daran, dass ich Ausländer bin? Manchmal mache ich mir schon meine Gedanken.“

Sein Kumpel Aydin Karatas, vor 22 Jahren in Kirchdorf-Süd geboren, glaubt nicht daran. „Es liegt an einem selbst, was man aus seinem Leben macht“, ist sein Credo. Er hatte etwas draus gemacht, hatte erst einen Imbiss, dann einen Kiosk, den er nach einem Unfall verkaufte. Auf das Geld wartet er bis heute. Auf einen neuen Job auch. 300 Bewerbungen stapeln sich zu Hause. Immer heißt es „zu spät“, „wir haben schon jemand“. Aber es wäre ihm zu einfach, das darauf zu schieben, dass er Ausländer ist.

So wie die meisten jungen Leute in Kirchdorf-Süd. „In meiner Klasse sind zwei Deutsche“, sagt Popeye, ein 16-Jähriger mit Irokesenschnitt. „Ich bin hier der einzige Gangster, und das hier sind alles kleine Kinder“, sagt er mit ausladender Hip-Hopper-Geste über seine Clique. Im Gesicht hat er eine frische Narbe von einer Schlägerei. Popeye will den Realschulabschluss machen und dann seinen Onkel fragen: „Der hat garantiert einen Job für mich.“ Immerhin sieht der Türke sich sprachlich bestens vorbereitet: „Ich spreche alle Sprachen, habe ich von meinen Kumpels gelernt: Russisch, Albanisch – sogar Zigeunerisch.“

Die Schule am Stübenhoferweg gilt als eine der besseren in Wilhelmsburg, auch weil die offizielle Ausländerquote „nur“ um 40 Prozent liegt. Wie viele Kinder – unabhängig von ihrem Pass – tatsächlich aus Migrantenfamilien kommen, weiß nicht einmal der neue Schulleiter Kay Stöck. Und er will sich auch eigentlich nicht mit solchen Zahlenspielen aufhalten. „Wir müssen ein individualisiertes Angebot machen“, sagt er. Sprachförderung, technischer Schwerpunkt und regelmäßige Praxistage– damit hofft er die Abbrecherquote zu senken, die etwas über dem Hamburger Durchschnitt liegt.

„Natürlich haben wir eine zum Teil schwierige Sozialstruktur, immer wieder auch gewalttätige Auseinandersetzungen.“ Er würde sich einen Sozialarbeiter für die Schule wünschen, der in Konfliktsituationen vermitteln kann. Aber Stöck sieht auch viele „positive Signale“ im Stadtteil. Die Zusammenarbeit mit Jugend- und Sozialarbeit sei eng. „Die Jugendlichen wissen, dass sie unter Beobachtung stehen“, und das bewirke neben dem Kontrolleffekt auch, dass sie sich wahrgenommen fühlten.

Und nach der Schule? „Für Jugendliche ist hier nichts“, sagt Anton, „es herrscht eine ungeheure Langeweile.“ Kein Wunder, dass manche auf dumme Gedanken kämen. Dabei gebe es durchaus engagierte Jugendarbeit. „Aber die Mittel fehlen. Das Jugendzentrum schließt um 22 Uhr. Und da sind eh‘ nur die Kleinen.“

Ganz so will Leiterin Susann Ramelow das nicht stehen lassen. „Aber wir haben uns bewusst auf Familien eingestellt“, sagt sie, mit Kinderangeboten bis 16 Uhr, danach Jugendprogramm vom Boxunterricht über Rappen im kleinen Tonstudio bis Playstation-Spielen auf der Großbildleinwand, nebenan Bewerbungstraining. Sonntags ist Familientag, da kommen sogar die Großeltern.

Sie nimmt die Jugendlichen gezielt mit in die Verantwortung: „Wir lassen die Älteren im Jugendzentrum mitarbeiten und bezahlen sie auch dafür“, sagt sie. Manchmal bekommt auch ein jugendlicher „Kollege“ abends den Schlüssel und macht eigenverantwortlich zu. Der Lohn: Das rot gestrichene Jugendzentrum sieht aus, als wäre die Eröffnung erst nächste Woche, obwohl es bald drei Jahre alt ist.

„Aber die Lebensrealität der Menschen hier ist so von Armut geprägt, dass ich das Gefühl habe, die Fassadenkleisterei nützt bald nichts mehr“, sagt Susann Ramelow. Wer es sich leisten kann, zieht weg. Was bleibt, ist die „Unterschicht aller Nationalitäten“, wie die Pädagogin es ausdrückt, und die „können kaum voneinander profitieren“.