„Man hat keine Eile. Das Wort ‚Tempo‘ ist unbekannt“

Nebenstelle (1): Vom Leben und Schreiben in der norddeutschen Provinz. Der Schriftsteller Günter Kunert über den Wechsel von Berlin nach Kaisborstel mit knapp 90 Einwohnern

Wo man bei Cechov in der Hoffnung auf das wirkliche Leben nach Moskau rief, rufen und ziehen deutsche SchriftstellerInnen heutzutage in lemminghafter Einhelligkeit nach Berlin. Hieß es nicht einmal: Die Erneuerung kommt von den Rändern? Für die taz nord schreiben SchriftstellerInnen aus der norddeutschen Provinz, was das Wohnen fernab der Metropolen für ihr Schreiben und Leben bedeutet.

Wie kann ein Berliner, der fünfzig Jahre in dieser diversen Umschwüngen unterworfenen Metropole verbracht hat, auf dem Land leben und dort einem Metier nachgehen, von dem er meint, es sei eigentlich besser in einer Großstadt zu betreiben? Diese Frage habe ich oft gehört, weil der Fragende den Wechsel vom „Häusermeer“ zur Einsamkeit einer relativ natürlichen Landschaft weder verstehen, noch nachvollziehen kann. Es gibt eine Antwort, besser: Antworten, da mit einem kurzen Satz wenig oder gar nichts gesagt ist.

Ich habe Gedichte und Prosatexte (im weitesten Sinne) über Berlin geschrieben, und es trat jener merkwürdige Zustand ein, den man damit bezeichnet, man habe „sich etwas von der Seele geschrieben“. Das jedoch bedeutet einen Verlust. Etwas geht einem verloren, indem man es, in Sprache verwandelt, für sich fixiert. Anstelle des lebenden Korpus Stadt verbleibt etwas Bildhaft-Beständiges, das sich mit der Realität nicht mehr deckt. Ich habe ja die Verwandlungen und Veränderungen Berlins „hautnah“ erlebt, ja, pathetisch gesagt: erlitten. Die Stadt hat sich vor meinen Augen zu etwas gemacht oder machen lassen, was sie mir entfremdete.

Wir wissen ja, dass durch die so genannte Sanierung mehr Zerstörung in den Städten stattgefunden hat als durch den Luftkrieg. Ecken, Plätze, Straßen, gar Gassen, Häuser, Gebäude meiner Kindheit und Jugend verbunden, verschwanden, um eine Baukastenwelt aus Sand zu werden. Freilich: schreibend kehre ich manchmal in jenes mir gehörige Berlin zurück, das aber mit dem gegenwärtigen, jener protzigen Glaskulisse, nichts gemein hat. Weil ich in Berlin einige Jahre am Stadtrand wohnte, in einer Restnatur, war es leicht, in einen größeren, stadtfernen Bereich umzuziehen.

Der Himmel wurde weiter, die Stille größer, die Luft besser, die Wege wurden einsamer – was schon ziemlich viele Vorzüge gewesen sind. Vielleicht benötigt man mit zunehmendem Alter ein Mehr an Ruhe, ein Buen Retiro, eine gewisse Abgeschiedenheit, die ja heutzutage durch die technischen Möglichkeiten auch keine ganz echte mehr ist.

Und wohl noch etwas bildet sich mit dem Alter aus: der Bedarf an ungestörter Arbeitszeit. Mit der wachsenden Reduktion der eigenen Lebenszeit sucht man diese für die Arbeit, für das Schreiben zu erweitern, denn das Schreiben stellt ja den wesentlichsten Teil des Daseins dar – jedenfalls für einen Schriftsteller. Leben auf dem Lande heißt auch: Leben mit den Jahreszeiten. Es gibt kein schlechtes Wetter, es bestimmt noch den Rhythmus der Tage, die Stimmung, den Aufenthalt im Freien, den Umgang mit Pflanzen und Tieren. Zwar bin ich kein Gärtner geworden, dafür fehlt mir der „grüne Daumen“, aber ich nehme teil an dem, was da wächst, blüht, gedeiht oder abstirbt. Ich bin kein „Grüner“, und registriere vielleicht eher beiläufig mein Umfeld, doch das versorgt mich mit der notwendigen inneren Ruhe.

Der Umgang mit den Menschen ist rundum „entspannt“ zu nennen. Als eine Art Hausmann mache ich die Einkäufe für Küche und Katzen (sieben Stück) und unterhalte mich dabei mit den Leuten, meist älteren Herren, die gleich mir mit einem Zettel in der Hand die Regale abschreiten. Unser Verhältnis zueinander ist ein freundliches. Man hat keine Eile. Das Wort „Tempo“ ist unbekannt. Die Menschen sind verlässlich und hilfsbereit. Jeder kennt jeden. Hier existiert, was ein tabuisiertes Wort „Heimat“ heißt. Gewiss: Es ist nicht meine Heimat, ich bin hier weder geboren noch aufgewachsen, habe mit keinem der, siehe oben, älteren Herren einst im Sandkasten gespielt oder mit ihnen die gleiche Schule besucht.

Doch bin ich immerhin hier zu Hause, soweit man überhaupt irgendwo zu Hause sein kann, außer im Reich der Literatur, aus dem man niemals ausgewiesen werden kann. Jedenfalls merke ich, sobald ich fernen Orten oder Städten zurückkehre, daß ich nach Hause komme, wenn der Taxifahrer am Bahnhof zu mir sagt: Wo sind Sie denn diesmal gewesen, Herr Kunert?