Erst nach der Ebbe kommt die Flut

ALTERNATIVE SZENE Eine Fallanalyse am Beispiel Hamburg: Wo bleibt eigentlich der Nachwuchs für die Subkultur?

VON SIMONE JUNG
UND FLORIAN PFEFFERKORN

Die alte Garde der sogenannten Hamburger Schule ist präsent wie in ihren Anfängen und beweist kontinuierliche Relevanz in der deutschen Musikszene. Schuf sie in den 90er-Jahren eine eigenständige vitale Subkultur, sind die meisten Protagonisten dieser längst entwachsen. Manche wurden aus finanzieller Not Teil der Marketingmaschinerie großer Plattenfirmen, andere suchen die Anerkennung in der Hochkultur. Zudem profitieren heute Kulturinstitutionen von den Ideen der Subkultur und holen alternative Künstler ins Boot.

Aktuell inszeniert Schorsch Kamerun am Theater Oberhausen. Und Rocko Schamonis Bestseller „Dorfpunks“ wurde im Hamburger Schauspielhaus uraufgeführt. Hochkultur frisst Subkultur. Was nicht weiter tragisch wäre, gäbe es da nicht ein Problem: Es gibt keinen Ersatz. Vereinzelt treten zwar Bands wie „1000 Robota“ in den Vordergrund und setzen sich mit Texten und Blogs mit ihrer Stadt und Umwelt auseinander. Eine funktionierende, jüngere Underground-Szene gibt es derzeit allerdings nicht.

Und nicht nur die Musikszene, auch das Nachtleben dominieren die Alten. Einst 1988 von Rocko Schamoni, Schorsch Kamerun und Kiser Walter gegründet, gilt der Golden Pudel Club, die „Elbphilharmonie der Herzen“, wie er sich auch nennt, nach wie vor als Subkulturanker. Anderen Treffpunkten wie Weltbühne, Tanzhalle oder Schilleroper wurden dagegen längst die Räume gekündigt. Die Ausdünnung der Clublandschaft ist ein Problem, denn es sind gerade die kleinen Clubs, die den noch unbekannten, unkonventionelleren Bands eine Plattform geben.

Tino Hanekamp, Mitbegründer der Weltbühne und heute Mitbetreiber des Clubs Uebel & Gefährlich, sieht ein Problem in behördlichen Auflagen: „Jeder Club muss zehn Parkplätze nachweisen, die sind aber kaum zu finden, also muss man Ablöse an die Stadt zahlen, zirka 15.000 Euro pro Parkplatz. Da spielt es keine Rolle, ob das Publikum per Rad oder Bahn kommt.“ Clubs wie die Weltbühne konnten sich überhaupt erst durch einen kreativen Umgang mit den behördlichen Bestimmungen etablieren. Leidenschaft, ist sie denn vorhanden, sprengt Auflagen.

Nährboden für freie Orte

Denn erst die freien Orte schaffen mit ihrer Unmittelbarkeit des sozialen Lebens den Nährboden für eine Subkultur, die aus sich selbst schöpft und unbeobachtet von außen eine authentische Selbstpositionierung ermöglicht. So verortet Rocko Schamoni die Keimzelle der Hamburger Schule im „Kennlern-Laden“, dem Stehausschank Sorgenbrecher auf St. Pauli: „Was man als Hamburger Schule bezeichnet ob man Klischees mag oder nicht, hat angefangen, als wir uns dort jeden Abend getroffen haben.“ In Bars wie dem Kir, Subito oder Heinz Karmers Tanzcafé tranken und diskutierten Musiker, Journalisten wie auch Künstler und Filmemacher.

Doch haben sich seit Anfang der 90er-Jahre einige Strukturen in Hamburg grundlegend gewandelt. Das einst alternative Schanzen- und Karoviertel wie auch zunehmend St. Pauli sind durchkommerzialisiert und bieten kaum noch Nährboden für Subkultur. Die logische Folge wäre eine Auswanderung in die Außenbezirke. Der Ortsteil Wilhelmsburg wird von der Behörde offiziell als Zwischennutzungsalternative lanciert und deshalb von den Künstlern weitgehend abgelehnt. Während Hamburg mit der Elbphilharmonie und einer geplanten Music Hall auf St. Pauli die Massenunterhaltung vorantreibt, schrumpfen bezahlbare Räume für ein Leben jenseits des Mainstreams massiv. Gegen diese Vertreibung von Unterprivilegierten aus ihren Vierteln kämpft aktuell die Antigentrifizerungsbewegung. Das im September 2009 erschienene Manifest „Not in Our Name Marke Hamburg“ unterzeichneten neben der Kulturprominenz auch zahlreiche junge Musiker.

Das klingt zunächst nach reichlich Potenzial. Doch kann dieser gemeinsame diskursive Nenner für die Entstehung einer neuen Subkultur ähnlich konstituierend wirken wie ein ästhetisch-künstlerischer? Ist die Debatte für junge Künstler das, was der Hamburger Schule ihre Wohlfahrtsausschüsse waren?

Wohl nicht. Denn zum einen fehlte hier von Anfang an der Aspekt des Unbeobachtetseins. Junge Kulturschaffende, die sich engagierten, waren sofort im Fokus der Massenmedien. TV-Reporter gaben sich mit Touristen die Klinke in die Hand. Zum anderen lädt die „Betreuung“ von Übervätern wie Daniel Richter nicht gerade zum Sprung ins kalte Wasser ein der bekanntlich große Kräfte freisetzen kann.

Eine Subkultur lebt nicht nur von Freiräumen, sondern auch von Visionären. Felix Kubin, Komponist, Hörspielproduzent und Labelbetreiber (Gagarin Records), nennt sie Moderatoren: „Leute, die ihr Wissen an andere weitergeben, die dann Blut lecken und in immer entlegenere Bereiche vordringen, um dann selbst zu Moderatoren zu werden.“ Nachfolger von Schorsch Kamerun oder Alfred Hilsberg fehlen bis jetzt.

Potenzial verpulvert

Zum anderen fehlt Hamburg ein unkonventioneller Radiosender. Das einstige Sprachrohr der alternativen Szene, der Sender FSK, verpulverte viel Potenzial durch interne Streitigkeiten über politische Ausrichtungen. Hoffnungsträger ist der im Januar 2008 von Ruben-Jonas Schnell gegründete Internetsender Byte FM. Unabhängig von Plattenlabels und Werbekunden wird hier in klassischer Form Autorenradio betrieben. Jüngere bilden aber auch hier die Ausnahme.

Die Problematik der wegbrechenden Subkultur in Hamburg verschärft sich weiter durch die Zentralisierung, die eine Abwanderung nach Berlin zur Folge hat. Das Verschwinden von Gleichgesinnten lässt Hamburg immer weniger zum Anziehungspunkt für junge Musiker werden. Auch die bürgerliche Auffassung von Kultur macht es den Künstlern nicht unbedingt einfacher: Kunst von unten ist im Selbstverständnis der Handelsmetropole Hamburg eher verpönt, ein ernsthafter Umgang wird ihr verweigert. So hat sich die Hansestadt immer schwergetan, jüngere künstlerische Formen zu respektieren. Felix Kubin vergleicht Hamburg gar mit „einem abgestorbenen Nerv, der nie mit der Idee aufgewachsen ist, Kunst und Avantgarde zu lieben“.

Vielleicht muss erst wieder wie nach dem Zusammenbruch der Neuen Deutschen Welle Mitte der 80er-Jahre ein Vakuum entstehen, um Bedürfnisse für etwas Neues zu wecken. Und vielleicht sollte jungen Künstlern mit mehr Mut und Neugier begegnet werden, statt sich im konsensgespülten Kosmos der alten Riege auszuruhen. In Hamburg selbst steht man der Situation gelassen gegenüber: Auf die Ebbe folgt die Flut.

Und wer weiß, vielleicht wird Hamburg irgendwann eine Alternative zu Berlin, wo die Mieten zwar billiger sind, die Vielfalt aber auch zur Unsichtbarkeit des Einzelnen führen kann.