Streit um Sorgerecht für Familie Sürücü

Nach dem Urteil im Berliner Ehrenmord-Prozess will die Schwester der Getöteten deren sechsjährigen Sohn zu sich holen. Vor Gericht hat sie wenig Aussicht auf Erfolg. Im Vormundschaftsverfahren steht das Wohl des Kindes ganz im Mittelpunkt

VON CHRISTIAN RATH

Wer wird nach dem Urteil im so genannten Berliner Ehrenmord-Prozess das Sorgerecht für den Sohn der ermordeten Hatun Sürücü erhalten? Arzu Sürücü, die Schwester von Hatun, will es beantragen. Falls der Antrag abgelehnt wird, will sich laut der türkischen Zeitung Hürriyet auch der in Istanbul lebende Vater des Kindes um das Sorgerecht bewerben. Deutsche Politiker zeigten sich entsetzt. „Die Familie der Täter darf jetzt nicht auch noch Zugriff auf das Kind des Opfers erhalten“, sagte an Ostern etwa Volker Beck, der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen.

Der heute sechsjährige Sohn Can lebt derzeit in einer Pflegefamilie. Hatun Sürücü war von ihrem Bruder Ayhan erschossen worden, weil er ihrem Lebenswandel als Schande für die Familie empfand. Seine beiden mitangeklagten Brüder wurden mangels Beweisen freigesprochen. Der Schwester Arzu Sürücü war keine Beteiligung an dem Mord vorgeworfen worden.

Nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch wird nach dem Tod einer allein erziehenden Mutter zunächst geprüft, ob das Sorgerecht auf den Vater übertragen wird. Das Familiengericht überträgt ihm das Sorgerecht aber nur, „wenn dies dem Wohl des Kindes dient“, so die gesetzliche Vorgabe.

Im vorliegenden Fall dürfte dies ausgeschlossen sein. Hatun Sürücü hatte den Kindesvater, einen in der Türkei lebenden Mann, der zugleich ihr Cousin war, im Alter von 15 Jahren auf Drängen ihrer Familie geheiratet. Doch als er sie schlug, kam sie schwanger nach Deutschland zurück und zog den Sohn allein auf. Der Vater dürfte daher kaum eine ausreichend positive Einstellung zu dem Kind haben.

Für ein Kind ohne jede elterliche Sorge muss das Vormundschaftsgericht einen Vormund suchen, der das gesamte Sorgerecht übernimmt. Laut Gesetz ist dabei eine Person auszuwählen, die nach ihren persönlichen Verhältnissen und ihrer Vermögenslage „geeignet“ ist. Zu berücksichtigen sind Verwandtschaftsverhältnisse, aber auch der mutmaßliche Wille der Mutter. Die Verwandten werden dabei angehört.

In diesem Zusammenhang kann die Familie Sürücü auch den Wunsch vorbringen, künftig für den kleinen Can zu sorgen. „Das wollten wir von Anfang an. Wir haben nur das Urteil abgewartet“, sagte die Schwester Arzu am Wochenende dem Berliner Tagesspiegel.

Bisher sind die Behörden davon ausgegangen, dass eine Erziehung des Kindes durch die eigene Familie nicht im Sinne von Hatun Sürücü wäre. Angelika Schöttler (SPD), die Jugendstadträtin des Berliner Stadtbezirks Tempelhof-Schöneberg, sagte, das Kind sei bewusst in einer Pflegefamilie untergebracht worden, um es im Sinne der Mutter zu erziehen. Während des Prozesses gab es für die Familie sogar ein Kontaktverbot.

Bei der Prüfung werden sicher auch die Indizien berücksichtigt, die dafür sprachen, dass der Mord an Hatun Sürücü keine Einzeltat des damals 18-jährigen Ayhan gewesen ist. Solche Indizien können, auch wenn sie nicht für eine strafrechtliche Verurteilung anderer Familienmitglieder ausreichten, im familienrechtlichen Verfahren verwendet werden. Vor dem Vormundschaftsgericht gilt keine Unschuldsvermutung, vielmehr steht das Wohl des Kindes ganz im Mittelpunkt.

Die heute 22-jährige Arzu Sürücü lebt entsprechend den Familientraditionen, trägt Kopftuch und zeigte nach dem Freispruch für die Brüder das Victory-Zeichen. Es ist kaum anzunehmen, dass ein Gericht ihr die Vormundschaft für den Sohn ihrer ermordeten Schwester überlassen würde. Für eine Adoption wäre Arzu ohnehin zu jung. Hier sieht das Gesetz ein Mindestalter von 25 Jahren vor.

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