Der Bundestag ist aufgewacht

AUS BRÜSSELDANIELA WEINGÄRTNER

Ein Blitzbesuch beim polnischen Sejm oder bei der niederländischen „Eerste Kamer“ lässt sich in Brüssel ganz problemlos organisieren. In einem versteckten Gang des Europaparlaments sitzt Arvi Karotam vom estnischen Parlament gleich neben seinem Kollegen Mongin Forrest vom Folketinget in Kopenhagen. Gegenüber arbeitet François Duluc, der Vertreter der Assemblée Nationale in Paris Tür an Tür mit Martyn Atkins vom House of Commons. Ein paar Schritte weiter wurde kürzlich ein neues Büro eröffnet. Dort sitzt die Bundestagsangestellte Vesna Popovic.

Der Deutsche Bundestag ist sozusagen ein Spätentwickler auf europäischem Parkett. Erst im November bezog Popovic ihr kleines Büro. Von den 25 EU-Mitgliedstaaten fehlen nun nur noch Zypern, Malta, Portugal und Spanien, dann ist die Parlamentsetage komplett.

Dass der Bundestag zu den letzten der nationalen Parlamente gehört, die eine eigene Vertretung in Brüssel errichten, überrascht. Gehört doch das Thema „Subsidiarität“ zu einem der beliebtesten in der deutschen Europadebatte. Brüssel soll nur für das zuständig sein, was die Nationalstaaten oder die Bundesländer nicht leisten können, fordern vor allem CSU-Politiker. Doch um zu wissen, ob von der Kommission Gesetze vorbereitet werden, um die sich vielleicht besser der Bundestag kümmern sollte, braucht man natürlich eine Vertretung dort.

„Wir müssen den Deutschen Bundestag europafähig machen“, sagt CDU-Politiker Matthias Wissmann, Vorsitzender des Europaausschusses. „Wir brauchen ein besseres Frühwarnsystem.“ Der Bundestag sei traditionell sehr europafreundlich. Doch das dürfe nicht dazu führen, dass man stets auf die Weisheit der EU-Kommission und die Beschlüsse der eigenen Regierung im Rat vertraue.

Doch wie will der Bundestag Einfluss nehmen? Ein wirkliches Vorbild gibt es nicht, denn in jeder nationalen Parlamentsvertretung wird anders gearbeitet, je nach Selbstverständnis und Mitspracherecht. Bisher verfolgt Popovic die Tagesordnung der EU-Institutionen, bereitet auf, was für den Bundestag von Bedeutung sein könnte.

Am wichtigsten für ihre Arbeit ist aber der Austausch mit den Kollegen aus den Nachbarbüros. Was beschäftigt die Abgeordneten in London, Kopenhagen oder Budapest? Wer hat den Beitrittsvertrag mit Rumänien und Bulgarien schon ratifiziert, gibt es neben dem Bundestag ein anderes Parlament, dessen Zustimmung noch aussteht? Man erfährt es beim Mittagessen, bei der wöchentlichen Konferenz oder im gemeinsamen Großraumbüro in Straßburg, wohin sich einmal pro Monat der ganze Betrieb zur Sitzung des Europaparlaments verlagert.

Der Meinungsbazar in babylonischer Sprachenvielfalt ist für Popovic nichts Neues. Sie hat schon als nationale Expertin in der Kommission in Brüssel, beim Europarat in Straßburg und als Mitarbeiterin im Sekretariat des Europaausschusses in Berlin Erfahrungen gesammelt.

Die Frühaufsteher

Es waren die Dänen und Briten, zwei traditionell EU-skeptische Staaten, die gleich bei ihrem Beitritt 1973 Mitarbeiter nach Brüssel schickten. Allerdings könnte die Arbeitsweise beider Büros unterschiedlicher nicht sein. Europas Vielfalt zeigt sich hier auf wenigen Quadratmetern. Das beginnt schon bei den Arbeitszeiten. Der Däne macht es wie zu Hause in Kopenhagen. Spätestens um halb acht, wenn er seine beiden Kinder zur Krippe gebracht hat, sitzt er am Schreibtisch. Bis zehn Uhr stört ihn hier niemand. Dann erst trudeln die Kollegen aus Paris und London ein.

Wie die meisten Dänen ist Forrest ziemlich angetan davon, wie die Politik in seiner Heimat organisiert ist. „Berichte über das Brüsseler Geschehen muss ich nicht schreiben. Das versuche ich nicht mal. Die Abgeordneten lesen selber Agence Europe oder andere europäische Spezialdienste. Die sind oft besser informiert als ich“, sagt er stolz. Er liefert vertiefte Analysen zu Themen, die speziell die dänische Öffentlichkeit interessieren – zum Beispiel die geplante EU-Agentur für Menschenrechte. Vor allem aber pflegt er sein Netzwerk, dänische Nichtregierungsorganisationen, Lobbyisten, dänische Mitarbeiter bei der EU-Kommission.

„Meine Informationen erleichtern die politische Arbeit in Kopenhagen. Die parlamentarische Kontrolle ist in Dänemark sehr streng. Unsere Minister können im Rat in Brüssel nicht abstimmen, wenn der Europaausschuss des Folketinget nicht vorher den Rahmen festgelegt hat.“ Wollen sich die anderen Mitgliedsländer bei den Verhandlungen in Brüssel auf diesen Rahmen nicht einlassen, muss sich der dänische Minister vom Parlament neue Weisungen holen. „Ich habe Minister gesehen, die drei, vier Stunden darauf warten mussten, vom Europaausschuss gehört zu werden“, sagt Forrest.

Das britische System sei in der Theorie ähnlich strikt. Auch der Europaausschuss im House of Commons studiere Gesetzentwürfe der Kommission in einem sehr frühen Stadium, noch bevor sie veröffentlicht würden. Das Mehrheitswahlrecht führe aber dazu, dass die stärkste Partei stets den Premierminister stelle. Und der habe im Europaausschuss automatisch die Mehrheit auf seiner Seite. Forrest ist zu höflich, um es zu sagen, doch eigentlich findet er das britische System nicht so toll. Bewunderung hegt er dagegen für Litauen. Dort sei nicht nur der Europaausschuss zu einem sehr frühen Zeitpunkt mit der EU-Gesetzgebung befasst, sondern auch die Fachausschüsse. „Ich mag das litauische Kontrollsystem“, sagt er mit schwärmerischem Gesichtsausdruck, als spräche er über seinen Lieblingswein.

Ganz anders ist da die Situation in Deutschland. Der grüne Abgeordnete Jürgen Trittin hat sich in seiner Zeit als Umweltminister oft über das geringe Interesse des Parlaments an der Europagesetzgebung gewundert. „Alle Abgeordneten wissen, dass in Brüssel inzwischen 50 bis 60 Prozent der Entscheidungen fallen, doch es scheint noch immer eine sehr abstrakte Erkenntnis zu sein.“ Vor jeder Sitzung der europäischen Umweltminister habe er Europa- und Umweltausschuss die Tagesordnung zuleiten lassen. Hinterher sei ein Bericht über das Ergebnis vorgelegt worden. „Eine Debatte darüber fand kein einziges Mal statt.“

„Wir müssen lernen, dass wir unsere Rechte viel besser wahrnehmen können, wenn wir früh begreifen, wo ein heikles Thema liegt“, sagt auch Matthias Wissmann. An Dänemark und Litauen will sich Wissmann aber nicht orientieren. Deren Kontrollsysteme seien nur eingerichtet worden, um jeden Einfluss aus Brüssel abzuwehren.

Wenn künftig jeder Fachminister nur noch mit genau festgelegtem Mandat aus seinem heimischen Fachausschuss in die Ministerratssitzung komme, bewege sich in Europa bald gar nichts mehr. Doch es sei richtig, die Fachausschüsse früher in die europäische Gesetzgebung einzubinden. „Ich verstehe die Rolle als Vorsitzender des Europaausschusses anders als meine Vorgänger. Früher saßen im Europaausschuss die Europabegeisterten und in den anderen Ausschüssen die Skeptiker – heute arbeiten wir eng mit den Fachausschüssen zusammen.“

Die Chemierichtlinie sei das einzige Beispiel, wo sich der Bundestag in den EU-Gesetzgebungsprozess früh genug eingeschaltet habe, um noch etwas zu verändern. Bei der Feinstaubrichtlinie oder der Dienstleistungsrichtlinie seien sowohl die Regierung als auch das Parlament zu spät aufgewacht.

Diplomatie im Zug

Und auch der wichtigste europäische Partner, Frankreich, kann kein Vorbild für die deutsche EU-Politik sein. Die Assemblée Nationale hat bis heute nicht einmal einen Europaausschuss. „De Gaulle war, wie Sie wissen, kein begeisterter Europäer. Die Verfassung der Fünften Republik sieht das nicht vor“, sagt François Duluc lakonisch. Neben dem Büro im Europaparlament hat er ein zweites in der Botschaft seines Landes. Von den französischen Teilnehmern in den Arbeitsgruppen der Botschafter erhält er die meisten Informationen darüber, was gerade in Brüssel ausgekocht wird. Das Kon-zept, dass die Parlamentarier über unabhängige Informationsquellen versuchen, die eigenen Regierungsvertreter in den Ministerräten zu kontrollieren, ist dem französischen Präsidialsystem fremd. Und wenn ein Abgeordneter ein Vorhaben der EU-Kommission kritisch untersuchen will, kommt er selbst nach Brüssel – mit dem Thalys sind das nur ein eineinhalb Stunden. Duluc bereitet diese Reisen vor und vermittelt Kontakte.

Spätestens im Sommer soll der Bundestag Vesna Popovic zwei oder drei zusätzliche Mitarbeiter zur Seite stellen. Auch die deutschen Abgeordneten der Europafraktionen sollen dann Verbindungsleute aus Berlin als Unterstützung bekommen. Damit hinterher kein Abgeordneter sagen kann, er habe keine Ahnung gehabt, was da an überflüssigen Vorschriften in Brüssel zusammengerührt wird.

Dänemark will sein Frühwarnsystem nun weiter verfeinern. In einem Pilotprojekt wird gerade an zwanzig Kommissionsentwürfen getestet, wie die zuständigen Fachausschüsse früher ins Spiel gebracht werden können. Sie sollen die Gesetze daraufhin abklopfen, ob eine einheitliche Regelung auf EU-Ebene wirklich Vorteile bringt. Diese so genannte Subsidiaritäts-Prüfung ist in der neuen EU-Verfassung vorgesehen und wird von den Dänen sozusagen vorab auf eigene Faust umgesetzt.

Eine schnelle Einführung dieses Überprüfungsmechanismus fordert auch der grüne Europapolitiker Rainder Steenblock. Sein CDU-Kollege Wissmann meint jedoch, dass die Zahl der Fälle, in denen sich eine Prüfung lohnen dürfte, bei höchstens zehn im Jahr liegen wird.

Das britische Parlament will für die Subsidiaritätstests eine Online-Datenbank mit europäischen Gesetzesvorhaben einrichten. „Viel wichtiger als das Ergebnis ist jedoch der Prozess an sich“, sagt Forrest. In der Praxis komme es gar nicht so oft vor, dass Brüssel seine Kompetenzen überschreite. Wenn aber die Fachausschüsse ein Thema als Entwurf auf dem Tisch gehabt hätten, blieben sie auch später im europäischen Gesetzgebungsverfahren am Ball.