Therapie über die Rampe

In Münster findet das zweite madness & arts worldfestival statt. Eine Woche lang werden dort die Phänomene psychischer Erkrankung von Theatergruppen bespielt, von Fachleuten diskutiert

VON PETER ORTMANN

Die ganze Welt ist ein Tollhaus. Ein Junge mit Down-Syndrom erzählt von sich. Es ist seine Seele, die spricht. Die Gesten und die Mimik sind die eines kranken Körpers. Beständig kreisen um ihn seine grausame, besessene, verzweifelte Mutter und eine Ärztin im Konflikt mit den Erfordernissen und Instrumenten ihrer Arbeit. Über ihnen hängt ein unförmiges Muskelgeschwulst an einem Fleischerhaken. Eine Metapher für den theatralischen Kunstgriff, der die Folge der traum- und albtraumhaften Sequenzen immer wieder radikal schneidet, sie zerlegt, zerstückelt wie Metzgerfleisch.

In dem pathologischen Theaterexperiment „Corpo 1 Prologo“ treten vier Personen auf, die zwischen Unschuld und Schuld(-gefühl), Krankheit und Perversion, Traum und Erinnerung gratwandern. Seit 1998 haben die künstlerischen Leiter Alessandro Fantechi und Elena Turchi mit dem Isole Comprese Teatro in Florenz eine Fülle von außergewöhnlichen Projekten entwickelt. Jetzt ist ihre Arbeit beim zweiten madness & arts worldfestival in Münster zu sehen.

Bei dem Festival treffen zum ersten Mal auf dem europäischen Kontinent professionelle Künstler zusammen, die auf facettenreiche Weise die Bruchstellen zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit erkunden. Theatergruppen, die allzu oft in der Isolation arbeiten, aber mit ihrer schillernden, wahnsinnigen Kunst ins Rampenlicht gerückt gehören. Die für eine Authentizität, Skurrilität, Bildmächtigkeit und Assoziationsgewalt stehen, die in den etablierten Theatern eine Seltenheit geworden sind. Hinzu kommen in Münster Workshops, Symposien, Vorträge, Filme und eine Ausstellung zum Zusammenspiel von psychischer Krankheit und Kunst. Die bildende Künstler stellen parallel im Kunsthaus Kannen aus. Thema: Wellenlänge. Der Titel ist Programm dieser Ausstellung. In einem dialogischen Projekt begegneten sich Künstler aus der Psychiatrie und professionelle Künstler. Manchmal reichte da schon ein winziger Impuls, ausgelöst durch ein Bild, ein Foto, um eine weiterführende künstlerische Bewegung zu initiieren.

Das Festival, das sich vielschichtig mit dem Phänomen psychischer Erkrankung aus einandersetzt, wurde 2003 in Kanada ins Leben gerufen. In Münster wird es von Paula Artkamp und Manfred Kerklau organisiert. Sie leiten in der Stadt seit zehn Jahren das Theater Sycorax, das integrative Theaterarbeit für Menschen macht, die psychische Erkrankung oder Grenzerfahrungen erlebt haben. Mit seiner Produktion „Woyzeck“ waren sie auch beim ersten madness & arts-Weltfestival in Toronto vertreten. „Das Interessante bei Sycorax ist, dass die Menschen sich uns aussuchen, nicht umgekehrt“, sagt Paula Artkamp über ihre Schauspieler.

Neun europäische Produktionen werden in der westfälischen Metropole zu sehen sein. Das Workman Theatre Project dagegen kommt aus Toronto. Sie zeigen „Vincent“. Der junge ausgerastete schizophrene Mann wird auf offener Straße von einem Cop erschossen. Keine Gangsterposse, keine Straßengangstory in Chicago, sondern eine wahre Begebenheit, die sich so oder ähnlich als Headline immer häufiger auf den Titelseiten internationaler Gazetten findet. Die professionell etablierten Kanadier und Gastgeber des ersten madness & arts worldfestival haben aus dieser tragischen Geschichte mehr als ein Doku-Drama gemacht. Am Ende bleibt die Kardinalfrage nach den Konsequenzen – für die Hinterbliebenen, für diejenigen, die die Ordnung hüten, und für alle, die zusehen.

01. bis 08. Mai www.madnessandarts.de