Angriff auf das Idyll

Potsdam ist Tummelplatz für Rechte – aber auch eine Stadt, wo sich Menschen gegen die Nazis wehren. Die Tat macht sie ratlos

„Viele Flüchtlinge bitten, dass sie nach Potsdam verlegt werden“

von ASTRID GEISLER
und FELIX LEE

Potsdam, welch ein Wohntraum: Villen mit Seeblick. Frische Luft um die Nase. Ein riesiger Park mit Schloss und Schlösschen gleich hinterm Haus. Demnächst wird in der Villa Ritz die erste dreisprachige Luxus-Kita der Republik eröffnen mit Sauna, Fitness-Saal und Bodyguards für den besonders anspruchsvollen Nachwuchs. Hier lassen sich die Joops und Jauchs dieses Landes nieder. Jene, die ihrer Work-Life-Balance das laute, dreckige, stressige Berliner Hauptstadtleben ersparen – und trotzdem nicht auf deren Reize verzichten wollen.

Potsdam, welch ein Albtraum: Die Straßenbahnstelle Charlottenhof. Viele sanierte Altbauten gibt es in der Gegend. Ein studentisches Viertel im Westteil der brandenburgischen Landeshauptstadt. Als Tatort für rassistische Übergriffe hätten sich die meisten eher andere Plätze in Brandenburg ausgemalt. Zu Ostern wurde an dieser Trambahnstation ein schwarzer Familienvater als „Nigger“ angepöbelt und niedergeprügelt. Seither kämpfen Ärzte um sein Leben.

Warum geschah es ausgerechnet hier? Der Potsdamer Oberbürgermeister Jann Jakobs (SPD) sagt: Die Stadt steht unter Schock. Und wenn man sich umhört, ist das keine jener Floskeln, mit denen Politiker am Tag danach gern mal ihre Betroffenenheit unters Volk bringen.

„Ich war schon sehr baff“, sagt Tamás Blénnessy. Der 24-jährige Student hätte nicht erwartet, dass es so schnell wieder losgehen würde. Vor neun Monaten war er selbst Opfer rechter Schläger geworden, ebenfalls mitten in Potsdam. Eine Gruppe von Neonazis hatte ihn auf offener Straße überfallen und mit einem zerbrochenen Flaschenhals schwer verletzt. Die Täter, die zum harten Kern der Neonazi-Szene gehören, wurden gerade erst zu zum Teil mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.

Die neue Welle rechter Gewalt in Potsdam hatte Anfang des vergangenen Jahres begonnen. Berlins Innensenator hatte in der Bundeshauptstadt zwei Kameradschaften verboten. Daraufhin wurde das benachbarte Potsdam zum neuen Tummelplatz der gewaltbereiten Neonazi-Szene. Die rechte Jugend rief zum „Summer of Hate“. Einem Übergriff auf den alternativen Nachwuchs folgte der nächste.

„Klar, in Potsdam gibt es eine starke rechtsextreme Szene“, sagt Lutz Boede. „Aber Potsdam ist doch nicht Schwedt. Potsdam hatte immer ein gutes Image bei Ausländern. Viele Flüchtlinge bitten darum, dass sie aus anderen Teilen Brandenburgs hierher verlegt werden.“ Boede, ein Kneipenwirt aus Babelsberg, ist nicht irgendwer in Potsdam. Er sitzt für die alternative Wählergruppe Die Andere im kommunalen Beirat gegen Rechtsextremismus und im Ausländerbeirat.

Der Kommunalpolitiker zählt zu jenen, die immer noch die Ansicht vertreten, die Gewalt von rechts habe sich in Potsdam zuletzt vor allem gegen Linke gerichtet. Doch seit dem Wochenende rücken jene Fälle ins Schlaglicht, die angesichts spektakulärer Übergriffe auf die linke Jugend weniger beachtet wurden: Fälle beinahe alltäglicher Gewalt gegen Menschen, die anders aussehen, nicht deutsch.

„Fremdenfeindliche Vorfälle waren auch in Potsdam in den letzten Monaten keine Ausnahme“, sagt die 27-jährige Sonja, Mitglied der Opferorganisation „Jugend engagiert in Potsdam“ (JEP). „Häufig wurden Asylbewerber beleidigt oder angegriffen“, sagt sie. Unlängst habe ihre Initiative auch einen schwarzen Familienvater betreut, der massiv bedroht und angegriffen worden sei. Allerdings hätten sich solche Vorfälle zumeist in den ärmeren Hochhaussiedlungen der Stadt zugetragen. Nicht in Charlottenhof.

Die Situation in der brandenburgischen Stadt an diesen Tagen nach dem Anschlag ist durchaus ungewöhnlich. Ungewöhnlich deshalb, weil niemand den politischen Verantwortlichen im Rathaus vorwirft, sie hätten die Brisanz der Lage unterschätzt, vertuscht, die Augen verschlossen vor der Realität. Im Gegenteil. Oberbürgermeister Jakobs sei „für dieses Thema sehr sensibilisiert“, lobt JEP. „Ihm darf man getrost abnehmen, dass er sich wirklich für die Familie des Opfers einsetzen wird“, sagt Ausländerbeirat Boede.

Bisher ist unklar, ob die Täter aus der organisierten Kameradschaftsszene kommen oder nicht. Das heißt: Auch die engagierte Gegenseite weiß nicht, mit wem sie es diesmal zu tun hat. Eine Ungewissheit, die das Gefühl der Ratlosigkeit noch verstärkt.

Bereits am Abend des Ostermontags hatten sich spontan rund 500 DemonstrantInnen auf dem Potsdamer Platz der Einheit zusammengefunden. Solidarität mit dem Opfer war das eine Motiv. Angst, Wut und das dumpfe Gefühl der unmittelbaren Betroffenheit das andere.

Kurz nach Prozessende im März hatte das Neonazi-Opfer Blennéssy noch versichert, er werde nach dem Übergriff nicht eingeschüchtert durch die Stadt laufen. Wachsam werde er sein. Aber nicht ängstlich. Heute sagt er: Besonders bei jungen Leuten, die sich seit Jahren gegen Rechtsextremismus einsetzten, mache sich Hilflosigkeit breit. „Wir wissen nicht weiter.“