„Es fehlen belastbare Zahlen“

Unklar ist, ob Todesfälle mit der Katastrophe zusammenhängen, sagt Peter Jacob

taz: Greenpeace geht von 100.000 Toten aus, der Bericht des Tschernobyl-Forums von 4.000. Wie kommt es zu diesem Unterschied?

Peter Jacob: Das Problem ist, es gibt keine belastbare Zahlen. In den betroffenen Ländern steigen zwar die Zahl der Todesfälle in den Krebsregistern. Ob das aber auf den GAU zurückzuführen ist, auf bessere Medizintechnik oder bessere Krebsregister, das ist nicht klar.

An Strahlung könnte es nicht zufällig gelegen haben?

Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte: Es gibt keine belastbaren Zahlen. Deshalb empfehlen wir der EU, Geld für eine umfassende Studie den betroffenen Ländern zur Verfügung zu stellen.

Die Weltgesundheitsorganisation hat doch aber durch das Tschernobyl-Forum belastbare Zahlen veröffentlich: 4.000.

Das ist eine Fehlinterpretation. Erstens sind die 4.000 Fälle eine grobe Schätzung. Zweitens geht der WHO-Bericht auch auf andere zusätzliche Krankheitsbilder und Todesfälle ein. Bislang ist aber nur eine Kurzfassung des WHO-Berichtes erschienen. Und die geht auf die anderen Todesursachen nicht ein. Zudem sind mit dieser Kurzfassung nachweislich Fehler verbreitet worden.

Mit welcher Absicht? Wer steckt dahinter?

Ich bin der Falsche, das zu kommentieren. Fakt ist, dass dies sehr ärgerlich ist. Die Langfassung der Studie ist aber immer noch nicht erschienen.

Immerhin führte das dazu, dass die Reaktorkatastrophe 20 Jahre später in Todesraten diskutiert wird. Warum?

Wahrscheinlich wird hier so mit Todesraten diskutiert, weil das Leid, das in der Region entstanden ist, nicht fassbar gemacht werden kann. Zwar hat sich die WHO auch mit den ganzen subklinischen Effekten befasst. Die sind aber oft überhaupt nicht messbar. Wie wollen Sie kalkulieren, was die Leute, die zwangsumgesiedelt wurden, durchgemacht haben? Und: Kommt der Herzinfarkt nun durch Arbeits- oder Umsiedlungsstress?

INTERVIEW: NICK REIMER