BESICHTIGUNGSTERMIN
: Touristen-Touristen

Aha, so leben die Menschen hier

Heute habe ich in der Weserstraße zum ersten Mal richtige Touristen gesehen. Nicht die abschätzig als Touristen bezeichneten „Hipster“, die in den letzten Jahren aus Gott weiß woher nach Nordneukölln gezogen sind, um in schummrigen Kneipen herumzuhocken, Club-Mate zu trinken und ihre Jutebeutel, Vollbärte, Neonsonnenbrillen und Röhrenjeans zu präsentieren. Sondern richtige Touristen-Touristen, die offenbar gekommen sind, weil sie sehen wollen, wie hier „Hipster“ aus Gott weiß woher in schummrigen Kneipen hocken, Club-Mate trinken und ihre Jutebeutel, Vollbärte und Sie wissen schon präsentieren. Die Information, dass das so ist, scheint es aus Reiseblogs inzwischen in richtige Touristenführer geschafft zu haben. So wie zum Beispiel in die dicke französische Schwarte, welche die etwa 40-jährige Mutter in der Hand hält, die da samt Familie die Weserstraße entlangkommt und die graffitibesprühten Altbauten mustert, als wären sie Notre Dame. Ihr folgt Vater mit Cargopants, Golfhut und Spiegelreflexkamera. Zwei halbwüchsige Töchter trotten mit gelangweiltem Gesichtsausdruck hinterher. Als ich mit dem Fahrrad durch die Hofeinfahrt in mein Haus fahre, ist Muttern blitzschnell hinter mir, hält das zufallende Tor auf und sieht mit großen Augen in meinen Hinterhof. Aha, so leben die Menschen hier also, d’accord! In solchen Augenblicken beginnt man an die Karmalehre zu glauben: Alles, was man im Leben tut, bekommt man irgendwann zurück. Als Tourist habe auch ich „authentische“ Orte gesucht und war erst zufrieden, wenn ich der einzige Ausländer im Viertel war. Die Slums von Manila. Die Hafenarbeiterkneipe in Boston. Das Eiscafé in Santiago de Cuba. Der Reggaeclub in London. Die Pendlerfähre in Rangoon. Die Sozialbauten in Phnom Penh. Das Nationalarchiv in Hanoi. Das uralte Kino in Delhi. All das holt mich jetzt ein. Früher habe ich besichtigt. Jetzt werde ich besichtigt.

TILMAN BAUMGÄRTEL