Rotkäppchen fehlte die Fluchtdistanz

WOLF VERSUS SCHAF

Der Wolf als Metapher des Einklangs mit der Natur

Seit die Wölfe zurück sind in Brandenburg, geht die Angst um. Immer wieder reißen sie, die Profiteure des grenzoffenen Schengen-Systems, Schafe. Diese Woche traf es einen Schäfer nahe Beelitz. Acht Tiere besaß er laut Schafsverband, fünf davon wurden von Wölfen getötet. Zwar bekommt er eine Entschädigung nach dem Wolfsmanagementplan. Trösten dürfte ihn das kaum.

Ein guter Schäfer stirbt für seine Schafe, steht schon in der Bibel – und so sehen sich die Schäfer bis heute: als Naturburschen und -schützer, die nicht anders können, als in zermürbender Selbstausbeutung 365 Tage im Jahr für ihre Herde zu sorgen. Den Wolf, ihren natürlichen Feind, würden sie am liebsten erschießen. Was sie aber nicht dürfen, weil selbiger, inzwischen ebenso als Geschöpf anerkannt wie das Schaf und wesentlich seltener im Vorkommen, geschützt ist. Weil jedoch die zweitliebste Lösung der Schäfer, Elektrozäune und Herdenschutzhunde, vielen Schäfern zu teuer ist, werden sie sich daran gewöhnen müssen, ihre Lieben nicht immer schützen zu können vor dem bösen Wolf.

Von der Stadt aus betrachtet, ist die Sache einfach: Unser grün schlagendes Herz findet es schön, dass der Wolf, ein beinahe ausgestorbener, aber über Jahrhunderte „natürlicher“ Gegenspieler des Menschen, zurückgefunden hat in deutsche Lande. Ein paar tote Schafe im Jahr sind uns kein zu hoher Preis für diese Rückeroberung der „Natur“. Dafür gibt uns der Wolf das Gefühl, dass die Welt, wenigstens rings um Berlin, irgendwie doch ganz in Ordnung ist. Der Wolf als Metapher des Einklangs mit der Natur, nach dem wir uns zurücksehnen.

Skeptikern dieser Wolfspolitik wird gerne unterstellt, sie litten am „Rotkäppchen-Syndrom“. Habt keine Angst, sagt man ihnen, an uns Menschen vergreift sich der Wolf nicht. Doch ein wohliger Schauer ergreift auch die städtischen Wolfsfreunde, wenn sie nun abends ihren Kindern das Märchen vom Rotkäppchen erzählen. Auch die Märchen haben ein Stück ihres natürlichen Ursprungs und Sinns zurückbekommen mit der Rückkehr des Wolfs.

Doch irgendwas stimmt nicht bei diesem postmodernen Happy End: Rotkäppchen hatte nämlich gar keine Angst vor dem Wolf – und genau das war sein Untergang. Ebenso wie die Tatsache, dass es dicht an dicht mit dem Wolf lebte. Und so ist es geblieben bis heute: Der Zuspruch zum Wolf steigt mit der Entfernung zu selbigem. SUSANNE MEMARNIA