„Im Internet darf es keine No-go-Area geben“

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) wird als sanft eingeschätzt. Er findet, eine vorsichtige Sprache sollte nicht mit mangelnder Härte verwechselt werden

■ 56 Jahre alt, seit Oktober 2009 Bundesinnenminister. Von 2005 bis 2009 war er Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts. Davor war er Staatsminister des Innern in Sachsen und Staatsminister der Finanzen

INTERVIEW S. AM ORDE, R. BOLLMANN
UND W. SCHMIDT

taz: Herr de Maizière, nach einem halben Jahr im Amt gelten Sie als sanfter Sheriff, als Minister für Entwarnung. Sind Sie in Wahrheit ein harter Hund wie Ihre Vorgänger und verkaufen es nur besser?

Thomas de Maizière: Niemand sollte eine vorsichtige Sprache mit mangelnder Härte und Entschlusskraft verwechseln, das ist wahr.

Inhaltlich unterscheidet Sie kaum etwas von Ihren Vorgängern Wolfgang Schäuble und Otto Schily?

So ist es. Ich komme, was die öffentliche Sicherheit betrifft, zu keiner anderen Lagebeurteilung als in den vergangenen fünf oder sechs Jahren.

Bei den Internetsperren gegen Kinderpornografie wenden Sie ein Gesetz nicht an, das Sie als Kanzleramtsminister selbst auf den Weg gebracht haben. Warum?

Wir wenden es nur in einer bestimmten Weise an, weil wir bei den Koalitionsverhandlungen eine entsprechende Vereinbarung getroffen haben.

Anstatt Internetseiten zu sperren, soll nun erst mal versucht werden, Kinderpornos im Netz löschen zu lassen. Sie halten Sperren aber nach wie vor für richtig?

Schauen Sie doch mal, wie viele Länder die Sperren praktizieren, auch solche mit einer langen liberalen Tradition wie in Skandinavien. Die öffentlich diskutierte angebliche Alternative zwischen Löschen und Sperren von kinderpornografischen Seiten gibt es im Grunde gar nicht. Beides muss möglich sein. Beides wirkt nicht absolut. Insofern wollen und müssen wir noch nachbessern.

Wenn Sie Internetseiten sperren wollen, brauchen Sie Zensurlisten. In Australien haben sich auf solchen Listen schon ganz harmlose Seiten wiedergefunden.

Ganz deutlich: Eine Zensur gibt und wird es in Deutschland nicht geben. Aber Sie können doch ein Verfahren nicht schon deshalb ablehnen, weil es möglicherweise missbraucht werden kann. Denken Sie zum Beispiel an die Telefonüberwachung. Sie ist bei uns unter bestimmten, strengen Voraussetzungen erlaubt. Trotzdem findet – wie von interessierter Seite gerne behauptet wird – kein wildes Abhören der ganzen Bevölkerung statt.

Sie können ein neues Medium nicht mit dem altmodischen Telefon vergleichen. Hat Ihre Politikergeneration das ganze Thema falsch eingeschätzt?

Ein Fehler war, dass wir bisher nur Einzeldebatten geführt haben – über Kinderpornografie, Onlinedurchsuchung, Vorratsdatenspeicherung. Das hat dazu geführt, dass das Verhältnis zwischen Staat und Netzgemeinde gestört ist. Ich arbeite hier an einem neuen Vertrauen. Noch in diesem Jahr werde ich ein paar grundlegende Vorschläge machen, welche Rolle der Staat im Netz spielen soll.

Welche Rolle soll das denn sein?

Vor allem, dass er seine Bürger vor Übergriffen durch Private schützt. Datensicherheit wird ein großes Thema. Hier hat der Staat eine Aufgabe. Die Probleme im Verhältnis zwischen Staat und Bürger werden für meine Begriffe überschätzt.

Google ist der Böse?

Nein. Ich rede hier nicht über ein einzelnes Unternehmen. Aber wenn der Staat seine Lebensmittelkontrolleure in die Supermärkte schickt, dann muss er auch im Internet für Verbraucherschutz sorgen. So wie er in der analogen Welt Personalausweise ausstellt, muss er auch im Netz eine verlässliche Identifizierung garantieren können. Und schließlich: Wenn das Internet eine Infrastruktur ist wie Strom oder Wasser, muss er für alle Bürger eine verlässliche Grundversorgung gewährleisten.

Einer Weltfirma wie Facebook können Sie nicht von Deutschland aus die Geschäftsbedingungen diktieren.

Warum soll der Staat auf Vorschriften verzichten, nur weil ein Phänomen international verbreitet ist? Wenn Toyota in Deutschland ein Auto verkauft, gilt die deutsche Zulassungsordnung. Auf den G-20-Treffen reden wir über internationale Regeln für die Finanzbranche, die national umgesetzt werden. Übrigens hat die Internetgemeinde so etwas schon selbst gemacht: Die Adressvergabe funktioniert, obwohl sie nur von Privatleuten verabredet ist.

Das erstaunt den deutschen Juristen de Maizière?

Es ist zumindest ein Phänomen.

Warum muss sich der Staat einmischen, wenn es auch ohne ihn funktioniert?

Weil das Internet kein rechtsfreier Raum sein darf. In der analogen Welt wollen wir keine No-go-Areas, in die sich kein Außenstehender mehr hineinwagen kann. Das darf es auch in der digitalen Welt nicht geben. Sonst haben wir vielleicht bald eine Verkehrung der Diskussion, in der wir sagen müssen: So viel Schutz, wie die Verbraucher vom Staat wollen, kann er ihnen im Netz gar nicht bieten.

Also ein Gütesiegel vom Staat, wie es die Deutschen lieben?

Eine Zertifizierung kann ich mir vorstellen. Es geht nicht zu allererst um Verbote. Auch der Straßenverkehr funktioniert ja nicht, weil Linksfahrer bestraft werden. Er funktioniert, weil das Rechtsfahrgebot in der Bevölkerung auf Akzeptanz stößt.

Und wenn ein Gesetz diese Akzeptanz nicht hat?

Der Staat sollte auch keine Gesetze erlassen, die er hinterher nicht durchsetzen kann. Nehmen Sie nur die Debatte um ein Burka-Verbot. Sollen dann Polizeistreifen die Frauen auf der Straße anhalten und festnehmen? Oder ihnen gar die Burka herunterreißen? Da kann ich nur zur Vorsicht mahnen.

Der Staat ist bei Ihnen immer der Gute?

In einer freiheitlichen Demokratie ist eine staatliche Regelung prinzipiell gut. Die Glaubwürdigkeit des Staates lebt davon, dass er diesen Ruf hat und behält.

Trotzdem gibt es Fehler. In Ihrer Amtszeit als sächsischer Innenminister hat ein Sondereinsatzkommando irrtümlich eine unbeteiligte Familie zu Hause überfallen. Die Aktion galt eigentlich dem Bruder der Frau, der im selben Haus wohnte. Nachher haben Sie sich bei der Familie nicht etwa entschuldigt, sondern erklärt, jeder sei für seinen Umgang selbst verantwortlich.

Der Einsatz war kein Fehler. Er war zwar nicht erfolgreich, aber er war richtig.

Auch Ihr Kommentar dazu?

Auch der war richtig. Als Innenminister müssen Sie bereit sein, umstrittene Bemerkungen zu machen. Sonst können Sie das Amt nicht ausüben.

„Mit weich oder hart hat das nichts zu tun. Ich formuliere meine Ziele vorsichtiger, weil ich sie auch tatsächlich erreichen will.“

Warum tut sich der Staat so schwer, Fehler zuzugeben?

Niemand gibt gern Fehler zu. Allerdings wird eine Entschuldigung im privaten Bereich im Zweifel als honorig akzeptiert. Im öffentlichen Bereich gilt sie eher als Versagen und als Grund für einen Rücktritt. Die Hemmschwelle, einen Fehler zuzugeben, ist deshalb höher. Das ist schade, aber es ist leider so.

Hatten Sie je ein ungutes Gefühl, wenn Sie mit der Polizei in Kontakt kamen?

Dass ich mich bedroht gefühlt hätte, meinen Sie?

Zumindest unwohl gefühlt.

In keinem Moment. Dass die Polizei in voller Ausrüstung etwa auf Demonstrationen einen psychologischen Effekt auslöst, ist wahr. Das ist zum Teil auch Absicht. Deshalb wird mit Blick auf Eskalation oder Deeskalation jedes Mal genau überlegt, ob der Helm aufgesetzt oder Schutzkleidung angelegt wird. Manchmal ist eben ein starker Auftritt erwünscht, der auch einschüchtern soll. Das finde ich in Ordnung.

Eine Phase jugendlicher Rebellion hatten Sie nie?

Doch, klar. Als junger Student wusste ich ganz genau, dass die letzten hundertfünfzig Jahre der Juristenausbildung ein einziger Fehler waren. Dass sich alles zum Besseren wendet, wenn man meinen Vorschlägen folgt. Ein Semester später war mir klar: Die Reform der Juristenausbildung gehört zu den Dingen, die in Deutschland besonders schwierig sind. Natürlich gibt es das. Ich würde sogar sagen: Wer nicht als junger Mensch größere Schritte von Veränderungen will, dem sollte man skeptisch begegnen.

Der Protest gegen Internetsperren oder Studiengebühren ist Ihnen also sympathisch?

Sind das Demonstrationen für Veränderung? Ich fürchte, das Gegenteil ist der Fall. Nicht nur bei der jüngeren Generation. Einerseits wird der Status quo beklagt, andererseits die Veränderung gefürchtet. Das bedeutet, es bewegt sich überhaupt nichts mehr. Diese Form von Immobilität ist eine Falle, das finde ich ganz schrecklich.

Deswegen treten Sie so sanft auf: Weil man Veränderungen nur durchsetzen kann, wenn sie nicht als solche daherkommen?

Mit weich oder hart hat das nichts zu tun. Ich formuliere meine Ziele etwas vorsichtiger, weil ich sie auch tatsächlich erreichen will. Man kann seine Vorhaben auch so groß formulieren, dass man sie schon allein dadurch unmöglich macht. Das sind nun mal die Strukturmerkmale von Reformprozessen.