ALS DIE KOMMUNIKATION NOCH AUF DER STRASSE STATTFAND UND PROLETEN UND PROGRESSIVE EINANDER GRÜSSTEN
: Die Schönheit des Unbekannten

VON JÖRG SUNDERMEIER

BERLIN AUF BLÄTTERN

Im Jahr 1982 kommt der Brite Michael Hughes zum ersten Mal nach Westberlin. Ein Foto in seinem Bildband „Inside Kreuzberg“ zeigt einen jungen Mann, dem es sichtlich um ein cooles Aussehen zu tun ist. Er fotografiert sich am Grenzübergang Helmstedt, im Hintergrund liegt eine Kuh auf einer Wiese und verdaut. Ein ungewöhnliches Bild, denn das Selbstporträt ist, trotz des ernsten Gesichtes des Fotografen, humorvoll, das Motiv erstaunlich angesichts der Bedeutung des Ortes.

Michael Hughes war offenkundig nicht beeindruckt von der Grenze. Er kam als Tourist, in Berlin wollte er was erleben, nicht Geschichte spüren. Der erste Eindruck von Berlin? Das Brandenburger Tor, die Mauer, „am nachhaltigsten aber setzte sich bei mir die schiere Menge nackter Menschen im Tiergarten fest“, schreibt Hughes. Der Fotograf blieb in Berlin, er blieb in Kreuzberg und er blieb, wie seine Fotos belegen, ein Tourist, „ständig zur falschen Zeit am falschen Ort“, wie er selbst sagt.

Doch der Band „Inside Kreuzberg“ macht deutlich, dass genau dies für jene, die Hughes’ Fotos betrachten dürfen, nur von Vorteil ist. Selbst dann, wenn Hughes Demofotos und Bilder von Hausbesetzungen abliefert, sieht man mehr, als man normalerweise auf derartigen Bildern sieht. Offenkundig ist Hughes parteiisch, aber auch die Demonstrierenden bleiben ihm ein bisschen fremd, ein bisschen unheimlich. Das brennende Auto am 1. Mai, ein Bild, das man schon tausendmal gesehen hat, wird in seiner Wahrnehmung zum merkwürdigen Objekt – weder ist es Zeichen des gerechten Aufstandes, noch ist es ein Mahnmal für die sinnlose Gewalt der Autonomen. Hughes selbst kommentiert sein Bild lakonisch: „Ein brennender Stern“.

Diese Liebe zum Objekt lässt Hughes sich seinen Kreuzbergern anders nähern, zwar fotografiert er den Trinker, die Frau mit Kopftuch, das nicht renovierte Haus, die Mauer, Graffiti, Steinewerfer und bockige Kinder, Künstlerinnen und Rockabillys, doch er zeigt sie als Fremde, die er schön findet.

Hughes kennt sich aus, er hat nicht den Blick des unbeteiligten Reporters, er begleitet die AktivistInnen des Büros für ungewöhnliche Maßnahmen und Bands als Freund, er rückt Menschen in ihren tristen Wohnungen auf die Pelle, sieht sie als Ethnologe und liebt sie sichtlich, denn er lässt ihnen ihre Würde. Das Buch folgt dabei einer Dramaturgie, das komische Kreuzberg wird für den Briten immer mehr zum Partykreuzberg, auf die Demos und Aktionen folgt der Mauerfall, nun sind die Grenzer die Fremden, die den Fotografen ängstlich beäugen, als er sie an der Mauer fotografiert.

Das etwas lieblos gestaltete Buch erweckt bei den Betrachtern eine Sehnsucht, der liebevoll-ironische Wahlkreuzberger Hughes erinnert mit seinen Schwarz-Weiß-Bildern an eine Welt, in der die Milieus noch nicht so scharf voneinander getrennt nebeneinander her leben. Eine Welt, in der Proleten und Progressive einander grüßen, in der Spielplätze noch für die Kinder aller errichtet werden, in der jede und jeder raucht, lacht, tanzt und protestiert, wo, wie und wann es gefällt, und in der Kommunikation noch auf der Straße stattfand.

■ Michael Hughes: „Inside Kreuzberg. Eine Hommage auf Berlin-Kreuzberg in den 80ern“. Berlin Story Verlag 2013, 96 S., 19,80 Euro