Eiszapfen und virtuelle Artefakte

OPERNPREMIERE Dmitri Tcherniakov hat für die Staatsoper „Die Zarenbraut“ von Nikolai Rimski-Korsakow neu inszeniert. Es ist ihm gelungen, altmodische russische Romantik in die Welt der neuen Medien zu übersetzen

Der digitale Regieraum ist nicht immer sichtbar, dennoch allgegenwärtig

VON NIKLAUS HABLÜTZEL

Lange bevor das Spiel beginnt – und es ist ein Spiel bis zum Ende –, ist die Bühne schon ein Bild, das verblüfft und auch verwirrt. Zu sehen ist, gemalt auf eine das ganze Portal füllende Leinwand, der Marktplatz einer russischen Stadt. Auf den Dächern liegt Schnee, Eiszapfen hängen an den Regenrinnen. Der Stil des Gemäldes ist naiv, nicht kitschig, aber altmodisch. Akkurat ist alles versammelt, was wir an romantischen Bildern des alten Zarenreiches vor Augen haben.

Seltsam ist nur, dass darin lebende Männer und Frauen herumgehen. Sie kommen mal von der Seite, mal aus einer Gasse, mal alleine, mal zu zweit, scheinen miteinander zu reden, bilden Gruppen, gehen wieder auseinander. Wie gemalt tragen sie die Kostüme aus jener verklärten Zeit der Zaren, sie sind Figuren dieses Bildes. Aber sie bewegen sich darin, als sei es gar kein Bild. Wie ist das möglich?

Wenn man länger hinschaut fällt auf, dass sich die Bewegungsmuster der Figuren wiederholen. Es ist kein Gemälde, sondern die Endlosschleife eines Videos. Dann beginnt Daniel Barenboim mit seiner Staatskapelle. Sie klingt wunderschön, naiv, nicht kitschig, aber altmodisch. Akkurat ist alles versammelt, was wir an romantischen Klängen des alten Zarenreiches in den Ohren haben.

Viel ist das allerdings nicht. Rimski-Korsakow klingt anders als der ewige Tschaikowski, farbiger, schroff und überraschend. Man kennt ihn kaum im Westen Europas. Nikolai Rimski-Korsakow hat fünfzehn Opern geschrieben, die hier fast nie aufgeführt werden, auch nicht „Die Zarenbraut“, die nach der Uraufführung 1899 in Moskau ein großer Erfolg war. Aber ausgerechnet jetzt, da alles zusammenzupassen scheint, das lebende Bild auf der Bühne und der lebende Klang des wahrscheinlich besten Orchesters der Welt, wird die Leinwand hochgezogen. Das Gemälde verschwindet.

Zu sehen sind stattdessen zwei Räume. Links der Regieraum eines Fernsehsenders mit etwa zwanzig flackernden Bildschirmen. Rechts, durch eine massive Wand getrennt, das Aufnahmestudio. Kameramänner, Beleuchter und Komparsen sind zufrieden, drüben im Regieraum geht die Szene auf Sendung, die wir vorher auf der Bühne gesehen haben.

Der Schnitt ist hart und stört die Konzentration des Hörens dieser unbekannten Musik, die damit nichts zu tun hat. In anderen Fällen wäre er nicht zu rechtfertigen, denn wir wissen ja auch ohne Nachhilfe von Regisseuren, dass wir in der Oper im Medium des Theaters sind. Hier jedoch hat der Schnitt die Qualität eines Geniestreichs. Dmitri Tcherniakov, der für Regie und Bühnenbild zeichnet, definiert einen neuen Spielraum für dieses Stück aus einer tatsächlich vergangenen Zeit. Es darf altmodisch bleiben, weil es zwischen Fernsehserien, Chats und YouTube seinen Platz in der Gegenwart gefunden hat.

Eine starke Nummer auch in dieser virtuellen Welt: Es geht um Eifersucht, Lügen, Mord und Wahnsinn. Die Hauptrollen spielen ein Schläger aus der Leibgarde des Zaren, seine betrogene Ehefrau und ein unschuldiges Mädchen. Ohne das Fernsehstudio zu verlassen, arrangiert Tcherniakov Perspektiven. Lange Zeit blicken wir durch das Fenster in ein Wohnzimmer. Das altrussische Dekor wird nicht mehr gebraucht, Personen in Kleidern von heute spielen das Rohmaterial für Szenen, die erst am Schneidetisch verbunden werden.

Der digitale Regieraum ist nicht immer sichtbar, dennoch allgegenwärtig. Natürlich passt Rimski-Korsakows Musik nie dazu, aber auch sie profitiert davon, dass sie wie die Figuren des Dramas nur ein virtuelles Artefakt ist. Entlastet von der Aufgabe der Einfühlung, entfaltet sie ihre autonome Kraft. Denn Rimski-Korsakow war ein Meister der Melodie, und hat in der Staatsoper Sängerinnen und Sänger gefunden, die ihm alles geben, was er sich wünschen mochte. Es beginnt mit Martin Kränzle, der mit seinem sparsamen und klug artikulierten Bariton die Vorlage gibt für den Auftritt von Anita Rachvelishvili. Die Stimme dieser jungen Georgierin ist ein kaum fassbares Wunder an Kraft, Schönheit und Musikalität. Und es endet im Wahnsinn der Zarin, gesungen von Olga Peretyatko. Sie klingt heller und leichter: die ideale Ergänzung ihrer Kollegin.

Bleibt nur die Frage: Warum wird dieses wundervolle Stück so selten gespielt? Vielleicht, weil so viel Kunst zusammenkommen muss wie hier, um es zum Leben zu erwecken.

■ Nächste Vorstellungen: 8., 13., 19. und 25. Oktober