Der Anker der Linken

HYPE Welches Lebensgefühl wird eigentlich über den FC St. Pauli transportiert? Eine Antwort darauf gibt die CD „St. Pauli Einhundert“

Am kommenden Sonntagnachmittag werden sich wieder Menschentrauben vor den Kneipen auf Hamburg-St. Pauli bilden. Die Menschen werden auch bei Sonnenschein schwarze Sweatshirts mit Totenkopf tragen. Ihr Club, der FC St. Pauli, spielt um 17:30 Uhr in Fürth und könnte bei entsprechenden Ergebnissen anderer Spiele den Aufstieg schaffen. Wenn das eintritt, ist auf St. Pauli die Hölle los. Wenn nicht, dann verschiebt sich die Hölle noch ein paar Tage, aller Voraussicht nach.

Der FC St. Pauli ist populär wie lange nicht, er weiß sich zu vermarkten wie nie, und zum wahrscheinlichen Aufstieg hinzu kommt das 100. Vereinsjubiläum im Mai, das der Club ausgiebig feiert. Das Geheimnis des Erfolges ist, dass der FC St. Pauli das Lebensgefühl, das er verkauft, nicht selbst erfunden hat. Das Lebensgefühl kommt von den Fans, und die Fans kommen aus der linksalternativen Szene. Der FC St. Pauli muss die Gratwanderung schaffen, das Lebensgefühl einerseits zu verkaufen und andererseits nicht zu verraten. Aber welches Lebensgefühl ist das? Eine Antwort auf diese Frage gibt die CD „St. Pauli Einhundert“. Sie ist erschienen beim Hamburger Label Tapete Records und versammelt 24 neu eingespielte St. Pauli-Songs von 24 Bands.

Fast alle der Bands kommen aus Hamburg: Rantanplan, Der Fall Böse, Thees Uhlmann von Tomte, DJ Elbe, Station 17, Tarantula Krise. Der Großteil macht gitarrenlastigen Rock, oft mit einem Zug ins Punkige. Erstaunlich viele formulieren eine Sehnsucht, die mit Linkssein gemeinhin nicht in Verbindung gebracht wird: Alles soll so bleiben, wie es ist. Und wenn das schon nicht geht, dann ist der FC St. Pauli der Anker im Strom der Zeit.

Der FC St. Pauli ist die Chance für die linksalternative Szene, konservativ zu sein. Es sei „nur eine Frage der Zeit, bis alle anderen gehen – aber St. Pauli bleibt“ heißt es bei Der Fall Böse. „So soll es weitergehen – so wird es weitergehen seit 1910“ heißt es bei Iro Gnaden. „Egal, was kommt und was geht – St. Pauli bleibt bestehen“ heißt es bei L.A.K.

Neben dem Wunsch nach Beständigkeit ist die Melancholie des Misserfolgs ein roter Faden, der sich durch die Songs zieht. Der FC St. Pauli wird dafür geliebt, dass er „selten vorne dabei“ ist, wie die Skatoons feststellen. Thees Uhlmann erkennt im FC St. Pauli gar eine Allegorie der Liebe, hat er von dem Club doch gelernt, dass sich die Liebe erst beweise, „wenn der Wind zunimmt“ und dass „Liebe ohne Leiden“ noch niemand gesehen habe. Auch Darlo erlebt im Stadion ein schlechtes Spiel – und ist beeindruckt, weil das Spiel durch das Feiern der Fans im Stadion „immer besser“ wird.

In Zeiten des Aufstiegs dürfte es die Melancholie schwer haben gegenüber den Hey-Jah-Yippy-Yeah-Sauf-Hymnen, die es beim FC St. Pauli natürlich auch gibt.

Außerdem prägen den Verein aktuell die Konflikte zwischen Fans und dem Präsidium, es geht um Sonderrechte, die das Präsidium den Ultràs genommen hat. Der Verein torpediert damit den Wunsch seiner Fans nach Beständigkeit. Lediglich das Außenseiter-Image im sportlichen Bereich wird dem Club nicht allzu schnell verloren gehen. Das Saisonziel würde wieder lauten: Klassenerhalt. Sonst nichts.

KLAUS IRLER

„St. Pauli Einhundert“. Erschienen bei Tapete Records