Als die Erde kleiner wurde

GERÜCHT WEDDING Die uqbar feierte Dreijähriges. Wer zuerst kam, malte zuerst, die Galerie wurde mit Kunst überschwemmt. Dazu wurde Rotes in Schalen gereicht

In Berlin hält sich nicht erst seit heute das Gerücht, dass es in Wedding eine Kunstszene gibt. Bisher wussten wir von drei Künstlern ganz sicher, dass sie ihre Ateliers hier haben, aber es wird gemunkelt, dass es Tausende sind. Die Aussage „viele Künstler ziehen in den Wedding“ hat eine Psychogeografie von positiver Energie geschaffen, als ob im Wedding Berlins Utopie versteckt wäre.

Dabei nennt sich keiner der 36 Ausstellungsräume in der Kolonie Wedding Galerie. Doch das ist nur die halbe Wahrheit: Eine heißt Rot Front Galerie, schon ihr Name enthält Schattierungen eines Oxymorons. Diese 36 mit Kunst gefüllten Räume verneinen also in ihrem Namen, dass sie mit Kunst gefüllt sind. Wie bei einem Kind, das auf einen Ball zeigt und dann unerwartet Kugel, Globus oder rundes Dingsda sagt, heißen die Ausstellungsräume im Wedding Garage, Anstalt, Raum, Labor, Atelier, Hinterhof, Boden, Palast, Space, Haus, Zentrum, Hotel, Tatami oder tragen einen Namen wie uqbar, ein fiktiver Ort aus Jorge Luis Borges’ Kurzgeschichte „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“.

In Borges’ Geschichte existiert Uqbar nur im Gedächtnis eines Mannes und auf vier zusätzlichen Seiten einer fehlbaren Enzyklopädie. Uqbar erregt die Neugierde von Borges’ Erzähler, als sein Freund ihm erzählt, „einer der Häresiarchen von Uqbar hatte erklärt, dass Spiegel und Paarung abscheulich seien, weil sie die Zahl der Menschen vervielfachen“. Auf seiner Suche nach einem schriftlichen Beweis der Existenz Uqbars beschreibt er die Charakteristika von Tlön (ein Teil von Uqbar) als einen sehr sonderbaren Ort, an dem keine Hauptwörter existieren.

In der uqbar von Berlin-Wedding wurde dieses Wochenende von den vier Kuratoren und Initiatoren das dreijährige Bestehen gefeiert. Das Prinzip der Feier war ziemlich einfach: Man hatte Künstler/innen eingeladen, von denen wiederum jede/r zwei Freunde eingeladen hatte, etwas an die Wände zu hängen, auf dem Boden oder auf der Fensterbank zu platzieren, wo immer sie wollten. Es war darum gegangen, die Menge der Kunst und der Künstler im Raum zu vervielfachen.

Wer zuerst kommt, malt zuerst, ohne kuratorische Kontrolle. Nur wegen der natürlichen Grenzen des Raums waren die Arbeiten auf 1 x 1 m zu beschränken. Der Pressetext nannte es einen „Cocktail, der ca. 50 internationale künstlerische Positionen vereint“. Tatsächlich war das Erste, was man wahrnahm, nicht das übliche Bild: Ein Kunstraum voller Künstler, die aus grünen oder braunen Flaschen Bier trinken. Viele hielten sich an gläsernen Bechern fest, perfekte Schalen für ein sprudelndes rotes Gemisch, das der im Wedding erfundenen Berliner Weißen mit Schuss nicht unähnlich war.

Zwei Arbeiten bestätigten das Gerücht von der Kunst im Wedding: Ein kleiner Stapel Bücher auf der Fensterbank verbirgt ein Geheimnis, eine tiefere Inspektion lohnt sich, der Titel deutet auf eine Provokation. Es ist ein Buch von Susanne Kriemann, aber eben doch nicht nur ein Buch, sondern eher eine Einladung zu einer Untersuchung: Ashes and Broken Brickwork of a Logical Theory. Die gebrochene Logik ist eine sehr schöne Sache, der Text der Künstlerin liest sich wie eine Laufschrift über Fotos, die Agatha Christie auf einer archäologischen Ausgrabungsstätte geschossen hat. In zwei Schnappschüssen von Lucy Powell wiederum ist ein scheinbar zahmer Spatz zu sehen. Die Arbeit hat den Titel „An dem Tag, als die Wissenschaftler ankündigten, dass die Erde 5 mm kleiner sei als vorher“. Man muss nicht viel weiter gehen als einen Schritt in die uqbar in Wedding, um darin ein Uqbar zu finden. APRIL LAMM FRANZ VON STAUFFENBERG