Reformpädagogen lecken ihre Wunden

NACH DEM MISSBRAUCH Auf Treffen und in Erklärungen versuchen Reformschulen mit dem Odenwald-Skandal zurechtzukommen

„Arche Nova: Die Bildung kultivieren!“ heißt der zweite Kongress am Bodensee, den das Archiv der Zukunft um Reinhard Kahl im September veranstaltet. (24. bis 27. 9.) Der Kongress wäre beinahe ins Wasser gefallen, als die Kette von Enthüllungen um Gerold Becker die Pädagogenszene schockierte. Inzwischen sagt Kahl: „Jetzt erst recht“. Er setzt auf eine kritische Auseinandersetzung mit der Reformpädagogik. Die Themen heißen „Lebens- und Lernkunst“ oder „Auf den Anfang kommt es an“, und erstmals wollen sich auch Vertreter des Lernens 2.0 mit den Instrumenten der sozialen Netzwerke beteiligen. Es machen mit der Schweizer Kinderarzt Remo Largo, der Unternehmer Götz Werner, die Hirnforscher Spitzer und Hüther, die Schulleiterinnen Ulrike Kegler, Enja Riegel, der Unipräsident Stephan Jansen – „und 1.700 Schulerneuerer und Lernaufwiegler“. Anmeldungen www.adz-netzwerk.de

BERLIN Den Anfang machen die Jenaer Pädagogen, und sie haben gleich auch Oberbürgermeister Albrecht Schröter (SPD) gewonnen. Seit gestern ist eine Jenaer Erklärung im Netz zu finden, die nichts an Deutlichkeit zu wünschen übrig lässt: „Wenn Heranwachsende sexuellem Missbrauch ausgesetzt sind, wenn ihnen Gewalt angetan wird und sie unter Verwahrlosung leiden, weil sie alleingelassen werden, so bedeutet das ein extremes Versagen der Erziehung und der Verantwortung Erwachsener“, heißt es in dem Papier. „Besonders in pädagogischen Einrichtungen ist dies in mehrfacher Hinsicht zu verurteilen: als Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, als Vertrauensbruch gegenüber der Familie, als Verrat berufsethischer Prinzipien. (…) Ausmaß und Häufigkeit dieses Versagens in Familien wie in kirchlichen oder weltlichen pädagogischen Einrichtungen müssen uns beschämen und wachrütteln.“

Die Autoren der Erklärung sind der Schulentwickler und Professor Peter Fauser, der maßgeblich für den Deutschen Schulpreis verantwortlich ist, der Historiker Jürgen John sowie der Bürgermeister für Soziales, Frank Schenker (CDU), der in Jena eine ganze Reihe von guten Schulen entwickelt hat, allen voran die Jenaplanschule.

Allerdings wird das Papier zum Ende hin, wenn es um die Konsequenzen für die heutigen alternativen Schulen geht, immer weniger deutlich. Die historische Reformpädagogik habe, „bei aller Problematik mancher Ideen und bei aller Ungenauigkeit dieses Sammelbegriffes zumindest eines gemeinsam … – dass sie mit großer Entschiedenheit die eigenen Perspektiven, die Entwicklung, die Rechte und Bedürfnisse von Kindern zur Grundlage und zum Ausgangspunkt pädagogischen Denkens und Handelns gemacht hat.“ Mit diesem etwas unsicheren Satz versuchen Fauser und seine Mitautoren wieder Boden unter die Füße zu bekommen – nachdem Gerold Becker vor 25 Jahren im Namen dieser Prinzipien jahrelang Schüler missbraucht hat.

Schon am Wochenende geht der Reigen dann weiter. Der „Blick über den Zaun“, ein Sammelbecken reformpädagogischer Schulen, trifft sich in Köln. Auch dort wird der Fall Becker und seine Auswirkungen auf die reformpädagogischen Schulen diskutiert werden – wenn es auch keine explizite Sitzung dazu gibt. Was auch eine Enttäuschung ist, denn seit Wochen wird unter den reformorientierten Pädagogen kein anderes Thema mehr besprochen – voller Entsetzen über das, was Gerold Becker, der unter den Gästen bestens bekannt ist, getan hat. Und auch mit Nervosität, dass Hartmut von Hentig als der weise alte Mann der Reformschulen sich in etwa so geäußert hat: Was habe ich damit zu tun?

Explizit und deutlich wird über die Reformpädagogik ganz sicher im September diskutiert werden, wenn sich in Bregenz die Crème de la Crème der deutschen Schulreformer und Bildungsneudenker zum Kongress des Journalisten und Filmemachers Reinhard Kahl trifft. Sein „Archiv der Zukunft“ kommt zum zweiten Mal an den Bodensee, 1.400 BesucherInnen waren es letztes Mal – und einer der Ehrengäste war Hartmut von Hentig. Diesmal sollte der Kongress sich ursprünglich rund um Hentig drehen, der 85 Jahre alt wird.

„Auf dem Kongress wird es mehrere Podien geben, die sich kritisch mit der Reformpädagogik auseinandersetzen“, sagt Kahl. Denn unter den Beteiligten ist klar, dass man diese Chance, sich von manchen seltsamen Vorstellungen der alten Meister zu trennen, nicht wieder verstreichen lassen darf.

CHRISTIAN FÜLLER