Und Europa war ein Kranker

DEMOKRATIE Der französische Politiker und Philosoph Alexis de Tocqueville reiste 1831 durch die USA. Mit „Fünfzehn Tage in der Wildnis“ liegen nun erstmals auf Deutsch seine beeindruckenden Reisenotizen vor

Tocqueville vermeidet es, ideologisch gegen seine eigenen Ambivalenzen zu theoretisieren, und stellt deshalb oft richtige Fragen

VON TANIA MARTINI

Welch hässlicher Anlass für die Reise zweier aristokratischer Europäer das war, das Strafsystem der Vereinigten Staaten Amerikas zu studieren, um nach dessen Vorbild das weitaus ineffizientere in Frankreich zu reformieren.

Mit diesem Auftrag entsandte im Jahr 1831 das französische Innenministerium den Versailler Untersuchungsrichter Alexis de Tocqueville und dessen Freund Gustave de Beaumont auf eine neunmonatige Reise, welche die beiden von New York bis Michigan, nach New Orleans und wieder in den Norden führte.

Doch, um es gleich zu sagen, die beiden Reisenden, vor allem der 26-jährige Tocqueville, hatten ein ganz anderes Interesse. Tocqueville wollte in Übersee Genaueres über die Demokratie erfahren. In der Massendemokratie der jungen USA erblickte er eine geradezu egalitäre Gesellschaft; wie in ihr überhaupt Freiheit möglich sei, war die Frage, die den aristokratischen Liberalen mehr interessierte als jede andere. Zu Hause in Frankreich, wo seinen Eltern nur durch den Sturz Robespierres die Guillotine erspart geblieben war, hatte Tocqueville sich nach der Phase der Zweiten Restauration bereits damit abgefunden, dass auch die Entwicklung in Frankreich und im Rest von Europa eine „allmähliche Entwicklung zur Gleichheit der gesellschaftlichen Verhältnisse“ nehmen würde.

Stechmücken und Fieber

Tocqueville war aufgebrochen, um zu lernen von Verhältnissen, die er nicht gerade begrüßte, denen man sich jedoch nicht in den Weg stellen sollte, weil es schlicht ausweglos sei. Das Ergebnis seiner Reise war das zweibändige Buch „Über die Demokratie in Amerika“ (1835/40), das ein viel zitierter Klassiker der politischen Philosophie ist. Nicht zuletzt weil sein Autor es vermeidet, ideologisch gegen seine eigenen Ambivalenzen zu theoretisieren, und deshalb oft richtige Fragen stellt, die noch heute die Demokratietheorie befeuern.

Auf Drängen Tocquevilles schließlich unternahmen die beiden Reisenden in den USA einen zweiwöchigen Ausflug hinter die westliche Frontier im nördlichen Michigan, um die sogenannte Wildnis zu erkunden. Vor Ort rät man ihnen ab – die Wälder, sie seien voll von Indianern, Stechmücken, ein Labyrinth, in dem sie das Fieber befallen würde. Tocqueville ist beharrlich, der Ausflug wird gemacht, es entsteht der tagebuchartige Text „Fünfzehn Tage in der Wildnis“, der nun erstmals auf Deutsch vorliegt. Er gibt dem Leser Gelegenheit, die konkreten Umstände von Tocquevilles Reise, dessen Eindrücke, Vorurteile oder vorläufige Schlussfolgerungen, aber auch das Destruktive der Zivilisierung in der neuen Welt in anschaulicherer Weise nachzuvollziehen als in seinen großen Amerika-Bänden. Tocqueville brilliert durch seine genaue Beobachtungsgabe.

Der Wunsch, an die Grenze dessen, was als zivilisiert und kultiviert verstanden wurde, zu reisen, war ein verbreiteter Wunsch unter den Gesellschaftsphilosophen des 19. Jahrhunderts. Nicht bloß, weil man glaubte, die vermeintlichen Grenzen zwischen Zivilisation und Wildnis weitaus einfacher bestimmen zu können, sondern auch, weil man, zeitlich gesehen, noch nah dran war an jenen Diskussionen über den Naturzustand der Menschen, die sich an den Theorien eines Hobbes, Locke oder Rousseau entzündet hatten. Nichts in der Wildnis, so notiert er, erinnere an die Vorstellung von Vergangenheit oder Zukunft.

Prekäre Balance

Tocqueville bringt Widersprüchliches zu Papier, entlarvt sein eigenes, mitgebrachtes Pathos vom „edlen Wilden“, ist entsetzt über Brutalität und Niedertracht der Pioniere und Siedler, aber auch angetan von deren Willensstärke, er fürchtet die Indianer und lässt sich dennoch gerne überzeugen, dass ihre Gesellschaft bei Weitem angenehmer sei als die der Weißen.

Die Gegensätze, die er beobachtet, begeistern ihn. Höchste Zivilisation und sich selbst überlassene Natur, Gemeinschaft und Isolation und schließlich die versöhnlichen Momente: „bar room; das ist ein Saal … wo der kleinste Arbeiter ebenso wie der reichste Händler des Ortes sich treffen, um auf dem Fuß vollkommener äußerer Gleichheit zusammen zu rauchen“. Man erfährt viel über die Praxis der Landvergabe, die Verachtung der Indianer für die Heimstätte der Europäer oder das Leben in Kleinstsiedlungen, wo Bären als Wachhunde gehalten werden.

Der kleine Bericht enthält bereits alle Grundgedanken seiner großen Amerika-Bände. Tocqueville, der von der amerikanischen Verfassung begeistert ist, weil sie den Zentralismus beseitigt, der seiner Meinung nach den Untergang des Ancien Régime bewirkte, spricht gerade noch wie ein radikaler Demokrat, um gleich darauf, beim Nachdenken über eine mögliche Balance zwischen Gleichheit und Freiheit, wie ein aristokratischer Reaktionär zu Felde zu ziehen. Einerseits beklagt er Hass und Misstrauen, das die „Klassifizierungen“ qua Hautfarbe, Unwissenheit oder Aufgeklärtheit bereits unter einer Menge von nur 30 Personen anrichte, um andererseits jedem Gleichheitspostulat umgehend ein despotisches Potenzial zu unterstellen. Der Idee der Volkssouveränität kann er nichts abgewinnen, die „Tyrannei der Mehrheit“ sei freiheitsgefährdend.

Zu dieser Einschätzung kommt er, das darf man nicht unterschlagen, weil er Gleichheit vor allem als Wettbewerbsindividualismus denkt. Die Aneignung der Reichtümer sei das einzige Anliegen der Amerikaner, es sei eine Tyrannei, die tief in den Willen der Menschen hineinwirke und den Bestand der Demokratie gefährde. Was er beklagt, ist – in beinahe weiser Voraussicht – das Primat der Ökonomie, das auch bewirke, dass man von Kultur und Bildung nur schätze, was dem Wohlstand zuträglich sei.

Von all den genannten Widersprüchen, die Tocquevilles Denken bis hin zu seinen späten Werken „Der alte Staat und die Revolution“ (1856) und „Erinnerungen“ (1893) prägen, bekommt man in dem kleinen Bändchen „Fünfzehn Tage in der Wildnis“ schon eine ziemlich genaue Ahnung. Unter all den Reisenden, die Europa besser von den USA aus sehen wollten, erinnert er vor allem in diesem Aufsatz, gerade in der Ambivalenz der Gefühle gegenüber dem bereisten Land, bei aller Unterschiedlichkeit an einen unserer Zeitgenossen, an Jean Baudrillard, mit dem er letztlich die Einschätzung teilt, dass der Hauptgrund für die Prosperität Amerikas in der Weite seiner Räume liegt. Und überhaupt hätte Tocqueville vermutlich Baudrillard recht gegeben in der Behauptung: „Frankreich ist nur ein Land, Amerika ist ein Modell.“

Alexis de Tocqueville: „Fünfzehn Tage in der Wildnis“. Aus dem Französischen v. H. Jatho. Diaphanes, Zürich 2013, 112 S., 12,95 Euro