„Das ist die tödliche Dialektik der Entspannung“

ERSTER WELTKRIEG Christopher Clark über sein viel beachtetes Buch „Die Schlafwandler“ und den Zusammenhang von Kriegsbereitschaft und Körpermetaphern

■ geboren 1960 in Sydney, lehrt Geschichte am St. Catharine’s College in Cambridge. Für sein Buch „Preußen“ (DVA, 2007) erhielt er 2007 den renommierten Wolfson Prize.

■ Das Buch: „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. DVA, München 2013, 896 S., 39,99 Euro

INTERVIEW VON STEFAN REINECKE

taz: Mr. Clarke, wer war Schuld am Ersten Weltkrieg?

Christopher Clarke: Ich finde den Begriff Schuld schwierig. Er ist zu moralisch. Er legt nahe, dass hinter jeder Tat eine Absicht, ein kohärenter Wille zum Bösen steht. Im wirklichen Leben sind die Absichten oft gut, die Resultate aber schlimm. Verantwortlich waren damals die Männer in den Exekutiven. Es waren ja ausschließlich Männer. Es gibt aber keinen Staat, der zentral verantwortlich war.

War nicht das kaiserliche Deutschland, das den Schlieffen-Plan für einen Blitzkrieg gegen Frankreich inclusive Angriff gegen das neutrale Belgien umsetzte, nicht doch etwas mehr verantwortlich für den Krieg?

Die deutsche Regierung war verantwortlich, natürlich. Aber im gesamteuropäischen Kontext. Das leichtsinnige Spiel mit dem Risiko gab es auch anderswo, in Sankt Petersburg, London und Wien.

Und Belgrad. In Ihrem Buch „Die Schlafwandler“ scheint der serbische Nationalismus eine Schlüsselrolle für den Ersten Weltkrieg zu spielen. Weil serbische Nationalisten glaubten, dass Großserbien nur in einem internationalen Konflikt entstehen würde.

Ich halte es nicht für unmoralisch, dass die serbische Staatsführung nationalistisch war. Das traf doch auf fast alle europäischen Regierungen zu. In Serbien war die nationale Identität allerdings eng mit dem bewaffneten Kampf verzahnt, vergleichbar mit Irland.

Messen Sie dem serbischen Extremismus nicht zu viel Einfluss zu?

Nein, mein Buch ist von serbischen Kollegen falsch verstanden worden. Ich behaupte ja nicht, dass Serbien verantwortlich für den Ersten Weltkrieg war. Sondern, dass die serbische Politik neben vielen anderen ein Faktor war. Die Konkurrenz Russlands mit Österreich-Ungarn auf dem Balkan spielt eine ganz wesentliche Rolle. Und die Lage ist insgesamt viel zu komplex, um sie in einem Gut-Böse-Schema zu rastern.

War es ein Krieg, den eigentlich niemand wollte?

Zumindest die Völker wollten ihn nicht. Die Staatsmänner in Sankt Peterburg und Berlin, in Wien, Paris und London wussten genau, dass ihre Bürger keinen Angriffskrieg führen würden. Aber es gab so etwas wie einen defensiven Patriotismus. Herrschte erst das Gefühl, dass man angegriffen wird, gab es einen fast hundertprozentigen Konsens für den Krieg.

Also gab es im August 1914 keine Kriegsbegeisterung?

Nur am Rande. Der General Friedrich von Bernhardi schrieb 1913 das Buch „Deutschland und der nächste Krieg“. Dieses Buch gilt bis heute als Beweis für die kriegslüsterne Stimmung in Europa, zumindest in Deutschland. Aber Bernhardi beklagt sich darin vor allem über seine friedliebenden Mitbürger, die den Krieg scheuen. In Deutschland war die Sozialdemokratie damals die größte Friedensbewegung weltweit. Auch Frankreich und Russland waren nicht bellizistisch gestimmt. Die Landbevölkerung, die Bauern, die Arbeiter, niemand war euphorisch. Sie ahnten, was kommt. In manchen Großstädten, bei Studenten, gab es im August 1914 Kriegsbegeisterung. Aber das waren kleine Minderheiten. Der russische Außenminister Sasonow behauptete damals, dass das Volk es der Regierung nie verzeihen würde, wenn Russland jetzt nicht aufseiten Serbiens militärisch eingreift. Das war die glatte Unwahrheit, die reine Manipulation.

Wie Colin Powell vor dem Irakkrieg in der UNO …

(lacht) Wenn Sie so wollen.

1911 war Norman Angells Buch „The Great Illusion“ ein Bestseller. Angells zeigte, dass Krieg überflüssig geworden war, schon ökonomisch unbrauchbar. Viele hielten Krieg für altmodisch …

Man muss sich vor Augen führen, dass Europa 1914 gesellschaftlich so eng vernetzt war, wie dies erst Jahrzehnte später in der EU wieder der Fall sein sollte. 1914 war es normal, dass die britische Nachwuchselite in Jena oder Heidelberg studierte. Als 1914 der Krieg da war, gab es unglaublich viele, die plötzlich im falschen Land waren, Briten in Deutschland, französische Gouverneure in Berlin, deutsche Industriearbeiter in Paris.

Kam der Krieg auch, weil ihn so viele für unwahrscheinlich hielten?

Ja, das Vertrauen, dass es keinen großen Krieg mehr geben würde, hatte eine paradoxe Wirkung. Das System der europäischen Diplomatie hatte ja dazu geführt, dass einige ernste Krisen entschärft worden waren. Es gab daher Vertrauen in die Möglichkeiten zwischenstaatlicher Entspannung. Aber genau die Erwartung, dass die Krisen am Ende ja doch immer ohne Krieg gelöst werden würden, hat die Risikobereitschaft auf allen Seiten erhöht. Das ist die potenziell tödliche Dialektik der Entspannung.

Die Akteure des Krieges – Poincaré, Bethmann-Hollweg, Grey, Moltke, Hötzendorf, der Zar und Kaiser – waren alle Männer. Spielte das eine Rolle?

Ja, es ist unübersehbar, wie sehr alle das Männliche betonen. Also: hart bleiben müssen. Die Sprache ist auf den männlichen Körper fokussiert. Sie schreiben Sätze wie: „Hier nachzugeben, wäre ein Akt der Selbstentmannung.“ Francis Bertie, 1914 der britische Botschafter in Paris, war bekannt als Deutschenfresser. Er sagte: „Wir müssen den Deutschen eine Lehre erteilen, sonst schieben sie uns ins Wasser und klauen unsere Kleider.“ Diese oft mit Aggression verbundenen Körpermetaphern sind auffällig. Ich glaube, dass es dies in der Generation zuvor, bei Bismarck und Salisbury, so nicht gab. Das Bild des Staatsmannes war zu Zeiten Salisburys anders: Er sollte klug, weise sein, auch schlau mit dem Gegner umgehen. Die Betonung der Härte war neu. Das war ein Merkmal dieser Generation von Politikern.

Warum?

Wenn ich den Gender-Historikern glaube, ist das ein Phänomen, das typisch für eine verunsicherte weiße Eliten ist. Mit der Industrialisierung entstand proletarische Männlichkeit, die als Bedrohung wahrgenommen wurde. Genauso wie die nicht weißen Männer, die Afrikaner, die Schwarzen. Darauf reagiert die männliche Elite in Europa mit der Überbetonung ihrer eigenen Männlichkeit.

Das katalysierte den Konflikt …

Ja. Unnachgiebigkeit wurde als eine männliche Tugend verstanden. Überall.