Die schöne Freiheit des Textes in Novilla

WELTLITERATUR Ein literarischer Kontinent ist in Deutschland noch zu entdecken – „Die Kindheit Jesu“, der neue Roman von J. M. Coetzee

„Die Dinge haben hier nicht ihr wahres Gewicht“, denkt Simón einmal. Hier, in Novilla, müssen Simón und David sich einleben. Ihre Außenseiterposition schildert Coetzee von innen heraus

VON DIRK KNIPPHALS

Es lässt sich nicht behaupten, dass der Schriftsteller J. M. Coetzee in Deutschland vollkommen unbekannt wäre. Von seinen längst klassischen Romanen „Warten auf die Barbaren“ und „Schande“ haben viele Leser wenigstens schon einmal gehört. Und als der 1940 in Südafrika geborene Nobelpreisträger von 2003 vor einigen Wochen beim Berliner Literaturfestival auftrat, war der Laden gerammelt voll; nach der Lesung wartete eine gewaltige Schlange andächtig auf das Signieren.

Und dennoch: Wenn es um die Höhenkämme der Literatur geht, bezieht man sich auf Pynchon oder Franzen, auf David Foster Wallace oder Roth, nicht aber auf Coetzee. Was schade ist. Denn von den Möglichkeiten der Literatur gibt es bei diesem Autor nicht nur viel zu lernen; es gibt sie bei ihm zu genießen. Der Kontinent Coetzee bleibt hierzulande noch zu entdecken.

Der neue Roman, „Die Kindheit Jesu“, dessen englisches Original kürzlich herauskam und dessen deutsche Übersetzung durch Reinhild Böhnke am 23. Oktober erscheint, bietet jetzt eine sehr gute Möglichkeit dafür. Er ist in einem Stil geschrieben, der klar ist wie Wasser in einem schmucklosen, durchsichtigen Glas. Er enthält all die Schönheit, die hinter der Sprödigkeit dieses Autors immer wieder aufblitzt. Und vor allem enthält es die großen Spielräume für Literatur und für ihren Ernst, die gerade J. M. Coetzee immer wieder neu abschreitet.

Es gibt (mindestens) drei interessante Lesarten dieses Buchs. Zunächst lässt es sich als Einwanderergeschichte lesen, vielleicht auch als Parabel über Migration und gesellschaftliche Integration überhaupt. Wir begegnen Simón, einem mittelalten Mann, und David, einem fünfjährigen Jungen, der seine Eltern verloren hat. Das Setting ist zunächst geheimnisvoll. Wir erfahren: Sie sind mit einem Schiff angekommen, ihr Gedächtnis wurde bei der Überfahrt zwar nicht wirklich gelöscht, aber doch unbrauchbar. „Die Vergangenheit ist so von Wolken des Vergessens verhangen, dass er nicht mit Sicherheit sagen kann, ob seine Erinnerungen echte Erinnerungen sind oder bloß Geschichten, die er erfindet.“

Außerdem hat David seine Eltern verloren. Der Vater wird verschollen bleiben, Simón nimmt sich seiner als Pate an. Sie kommen in Novilla an, einer Spanisch sprechenden Stadt (die Sprache lernen sie in einem Übergangscamp), in der alles sehr rational, aber auch blutleer organisiert ist. Es gibt Essen für alle, aber nur Brot. Es gibt Arbeit, aber nur Säckeschleppen. Es gibt Hilfsbereitschaft, aber keine Freundlichkeit. „Die Dinge haben hier nicht ihr wahres Gewicht“, denkt Simón einmal. Hier müssen Simón und David sich einleben. Ihre Außenseiterposition schildert Coetzee von innen heraus. Simón hat sich außerdem vorgenommen, die Mutter des Jungen zu finden.

Nicht nur aufgrund des Titels kann man „Die Kindheit Jesu“ aber auch als eine Überschreibung biblischer Motive verstehen. Zusammen mit Inés, der Frau, die Simón schließlich als Mutter für David findet (ob sie die leibliche Mutter ist, ist nicht ausgeschlossen, aber doch unwahrscheinlich), bildet das Trio eine seltsame heilige Familie. Zumindest eine „Art von Familie“, wie es an einer Stelle heißt. Und auf Wunder wird zumindest angespielt – anhand eines toten Pferdes etwa auf das Wunder, Tote wieder zum Leben zu erwecken –, auch wenn sie dann letztlich nicht stattfinden.

Es geht hier aber nicht nur um einen religiösen Hintergrund im engeren Sinn, sondern um die weltsetzende Kraft der Schrift. Als Simón David Lesen beibringt, anhand einer Kinderausgabe von „Don Quichote“, beschwert sich David: „Ich will keine Buchstaben lesen. Ich will Geschichten lesen.“ Und Simón antwortet: „Das ist unmöglich. Eine Geschichte ist aus Wörtern gemacht, und Wörter sind aus Buchstaben gemacht.“ Das ist ebenso sehr konkret auf die Situation bezogen, wie es sowohl ein Hinweis auf „Am Anfang war das Wort“ ist wie auf die Eigengesetzlichkeit von Texten: Man muss schon dem folgen, was tatsächlich in ihnen geschrieben steht. Von solchen in den Ablauf eingebundenen tiefen Stellen gibt es viele. Konfrontiert mit dem ständig kindlichen Warum-Fragen stellenden David muss Simón im Verlauf des Buchs die Grundbedingungen des Menschseins Schritt für Schritt erklären.

Die dritte Lesart ist dagegen wieder vollkommen untranszendent. Nach ihr wäre „Die Kindheit Jesu“ das gelungene Alterswerk eines Schriftstellers, der alles erreicht hat, der auch schon mit vielen literarischen Möglichkeiten experimentiert hat (zuletzt, in „Sommer des Lebens“, hat er gleich fünf Figuren von einem toten Schriftsteller und Nobelpreisträger namens John Coetzee erzählen lassen) und nun mit schöner Freiheit und ohne viel Firlefanz Szenen erfindet, in denen die wirklich wichtigen, die großen Fragen verhandelt werden. Nicht nur die von Liebe, Sex und Tod. Sondern auch die, was sinnvolle Arbeit ausmacht. Was Mutterschaft und Vaterschaft bedeuten. Was man zum Leben braucht. Es steckt viel drin in diesem gar nicht mal so dicken Roman.

Das Faszinierende an „Die Kindheit Jesu“ ist, dass man alle diese Lesarten immer parallel im Kopf hat, während man das Buch liest. Man darf es nicht zu sehr festlegen. Dann wird beim Lesen immer wieder belohnt durch oft nur ganz kurz hingetuschte, aber ungeheuer eindrucksvolle Szenen. Wie Simón etwa ins Meer stürzt und dabei beinahe an der Kaimauer zerquetscht wird, wird man ebenso im Gedächtnis behalten wie seine irgendwie tragikomischen Versuche, in Novilla

Frauen zum Sex zu überreden (wie Don Quichote, mit dem der moderne Roman bekanntlich anfing, hat er etwas von einem Ritter in trauriger Gestalt).

Spätestens im letzten Drittel wird der Roman dann sogar zum Pageturner. David erweist sich als schwer integrierbarer Schüler, er soll in ein Internat. Inés und Simón fliehen mit ihm in einem Auto in eine unbekannte Zukunft. Und Coetzee kriegt es hin, dass man fast wie in einem normalen Thriller unbedingt wissen will, was weiter geschieht.

Innerhalb von Coetzees Werk ist die Erzählerinstanz interessant. Das Spiel mit verschiedenen Erzählebenen hat Coetzee hier wieder zugunsten einer personalen Erzählerperspektive und der dringlichen Präsenz, das er so gut beherrscht, aufgegeben. Aber es ist auch nicht diese unerbittlich Gerichtstag haltende Erzählerstimme wie in „Schande“, bei der man dachte: Gnade wird die Hauptfigur erst dann erhalten, wenn sie jede nur denkbare schlimme Wendung erlebt hat (worin natürlich auch die Realität Südafrikas eingeflossen ist). Es ist zum Teil der neutrale Erzähler aus den autobiografischen Büchern, etwa so wie in „Die jungen Jahre“. Manchmal meint man auch ein Augenzwinkern zu verspüren. Dass Coetzee lustig ist, ist vielleicht sowieso auch noch genauso zu entdecken, wie es auch bei Kafka lange Zeit erst noch zu entdecken war.

Gerade in der deutschsprachigen Literaturszene wäre es schon gut, Coetzee als Bezugspunkt mehr in den Mittelpunkt zu rücken. Es wäre fruchtbarer, als zum Beispiel dem Hyperrealismus eines David Foster Wallace nachzulaufen. Es gibt in Deutschland keine ähnliche Autorenfigur, die das Auf-der-Welt-Sein aus so einer großen Entfernung wie J. M. Coetzee durchdenken kann. Botho Strauß etwa verhandelt die Zumutungen der Integration immer gleich auf der Vorwurfsebene, mit einer Verdummungstheorie im Hinterkopf. J. M. Coetzee dagegen ist, glaube ich, hinter all seiner Distanz und all seinen Masken schlicht viel zu neugierig, um gegenwartsfeindlich zu sein. Dieses Buch wächst in einem, je mehr man darüber nachdenkt.

J. M. Coetzee: „Die Kindheit Jesu“. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. Fischer, Frankfurt a. M. 2013, 352 Seiten, 21,99 Euro. Ab 23. 10.