„Meine Mutter hatte Recht“

Am 20. Jahrestag des Unfalls von Tschernobyl ist das Erbe der Atomkraftgegner heftig umkämpft. Ein Gespräch mit Lars Jessen, Regisseur und Chronist der Anti-Atomkraft-Bewegung, über den Pragmatismus der Mütter, die Alpträume der Kinder und den Sarkasmus der Väter, die Recht behalten hatten

taz: Wissen Sie noch, was Sie taten, als der Unfall in Tschernobyl passierte?

Lars Jessen: Ich kann mich an den Tag erinnern, an dem der Regen kam. Ich habe noch eine jüngere Schwester, die damals vier Jahre alt war und auf einem Spielplatz in einer Regentonne gespielt hat. Also das Schlimmste, was passieren konnte. Ich erinnere mich an das Abduschen meiner Schwester und die Panik meiner Mutter. Und als zweites an den riesigen Sack mit Milchpulver, der plötzlich in unserem Keller auftauchte. Immer wenn ich Milch trinken wollte, musste ich mit einer kleinen Handschaufel in den verdreckten, spakigen Keller gehen und eine Portion von diesem klebrigen Pulver holen. Es schmeckte furchtbar, und wir haben diesen Milchpulversack höchstens zu einem Fünftel aufgebraucht.

Im Film hat man den Eindruck, dass die Katastrophe vor allem als organisatorische Herausforderung aufgenommen wird. Als Frage, wie man möglichst viele Plastikplanen möglichst raumgreifend ausbreitet.

Das war zu gewissen Teilen auch eine Schutzreaktion, glaube ich. Es waren ja auch hauptsächlich Frauen, die mit ihrer Angst ganz pragmatisch umgingen, die instinktiv etwas tun wollten, um sich und die Kinder zu schützen. Daraus sind dann viele Elterninitiativen entstanden. Bis in die 90er Jahre hinein gab es bei uns einmal im Monat ein Heft mit unabhängigen Messergebnissen, weil man sich nicht mehr auf den Staat verlassen konnte oder wollte – und das haben meistens Frauen organisiert. Viele Männer verharrten stattdessen regelrecht in Paralyse und waren beleidigt, dass sie und ihre Warnungen von den meisten Leuten erst ernst genommen wurden, als es zu spät war.

Warum beleidigt, wenn man es doch erwartet hat?

Weil alle vorher gesagt haben: Das stimmt nicht, das passiert nie.

Gab es da nicht auch ein Moment der Bestätigung, im Sinne des Mahners in der Wüste, der endlich Recht bekommt?

Genugtuung war eigentlich fehl am Platz, weil das Ereignis nichts war, worüber man sich freuen konnte. Trotzdem reagierten viele höhnisch und sarkastisch, was man schon nachvollziehen kann, wenn man sich zum Beispiel die Berichte von damals im Fernsehen ansieht, in denen Zimmermann und Schäuble weiter beschwichtigten und behaupteten, bei uns könne man derartige Unfälle zu hundert Prozent ausschließen.

Dennoch war der Schrecken in Deutschland sozusagen gründlicher als in vielen Nachbarländern.

Diese Art von Panik ist schon ein deutsches Phänomen. Aber sie hat natürlich auch positive Auswirkungen, wenn man dann Konsequenzen daraus zieht, was in anderen Ländern ja kaum passierte. Die psychosozialen Mechanismen der Angst setzen sich übrigens fort: Unsere Kinder haben totale Panik vor der Vogelpest und das erinnert mich an meine Tschernobyl-Angst von damals. Damals gab es auch die entsprechende Jugendliteratur: Als ich Mumps hatte, las ich „Die letzten Kinder von Schewenborn“. Schrecklich. Ich hatte Alpträume von atomaren Wolken, die die Erdkruste aufreißen und über unser Haus hinwegziehen, an die ich mich bis heute erinnern kann.

Zum Zeitpunkt des Unfalls waren Sie 17 Jahre alt. Da haben Sie gar nicht mehr in der Kommune gelebt, an die der Film angelehnt ist.

Aber wir hatten immerhin noch ein „taz“-Abo.

Das Sie damals aber vermutlich nicht wirklich beruhigen konnte.

Ja, es war schon Panik. Mit solch einem Gefühl sind wir in dieser Zeit groß geworden. Ich wusste, wo jedes Atomkraftwerk in der Nähe war, ich wusste auch genau über die technischen Zusammenhänge Bescheid, was da passieren kann. Es war tatsächlich wie eine Welle, die auf einen zurollt: Vielleicht ebbt sie vorher ab und vielleicht wird sie auch viel größer. Endzeitstimmung eben.

Hat Sie damals interessiert, wie man in der bundesdeutschen Politik damit umging?

Das war schon bezeichnend: Ab dem ersten Tag ging es eigentlich gar nicht mehr darum, was da an prinzipiell technischen Fehlern passiert war und was da auf uns zukam. Es ging vielmehr um die Informationspolitik der schludrigen Sowjets: Dass sie zu spät Bescheid gesagt hatten, dass sie alles vertuschten.

Jetzt scheint es, dass über die Verdienste der Anti-AKW-Bewegung hinweggegangen wird. Zumindest Ex-Umweltminister Trittin sagte kürzlich, dass der Ausstieg weniger Ergebnis der Blockaden der Atomkraftgegner gewesen sei denn Ergebnis seiner Verhandlungen mit der Wirtschaft.

Das ist meiner Meinung nach Blödsinn – da wird Ursache und Wirkung verwechselt. Die Anti-AKW-Bewegung hat das Thema durch verschiedene Formen von gewaltlosem und auch gewaltsamem Widerstand über Jahre auf der Tagesordnung gehalten. Herr Trittin hätte niemals sonst die Möglichkeit gehabt, gewählt zu werden und mit den Wirtschaftsbossen zu verhandeln.

Und doch scheint die Halbwertszeit dieser Erfahrungen sehr gering. Kurz vor dem 20. Jahrestag des Unfalls haben CDU-Politiker den Konsens zum Atomausstieg noch einmal in Frage gestellt.

Der entscheidende Punkt ist die Kohle. Jetzt merken die Leute: Ich muss für eine sicherere Zukunft Geld investieren, das heißt, der Strom wird teurer. Man sieht ja, dass die Haltung der Bevölkerung bröckelt, sobald es ums Portemonnaie geht. Das ist natürlich eine frustrierende Sache.

Aber keine neue.

Nein. Es ist jetzt eine politische Entscheidung. Ich glaube, dass ein Ausstieg nie endgültig ist. Das muss die Gesellschaft jedes Mal neu entscheiden. Das ist natürlich frustrierend. Die Hoffnung, wir wählen einmal Rot-Grün und dann ist das Ding für immer vorbei – so funktioniert es leider nicht.

Ist es dieser Zweifel über die Dauerhaftigkeit der erreichten Veränderungen, der die Linke derzeit in die Versenkung treibt?

Viele dieser Leute sind sehr verunsichert und haben Schwierigkeiten, mit ihrer eigenen Geschichte umzugehen. Sie können nicht sagen: Wir sind für diese Überzeugungen eingetreten und haben uns dabei sicher viel zu viel vorgenommen. Aber wir dürfen nun nicht im Umkehrschluss denken, dass nur, weil sie nicht alle Ideale erreicht haben, alles Mist war. Und auch Frau Merkel schafft jetzt nicht alles ab, was zum Beispiel an neuer Energiepolitik unter Rot-Grün entstanden ist. Die Ideen von damals sind ein Stück weit Mainstream geworden und das ist etwas, womit einige nicht recht umgehen können.

Auch nicht im Dienst der Sache?

Es ist menschlich, dass da persönliche Eitelkeiten betroffen waren. Darum geht es natürlich auch in unserem Film – aber das darf nicht dazu führen, dass man die Grundlagen und Ziele dieser Bewegung diskreditiert, das wollte ich auf keinen Fall. Es war mir wichtig zu zeigen, dass die Figuren eine Haltung haben zum Leben, und das ist ein ganz großer Unterschied zur heutigen Zeit. Natürlich hat es zu absurden Ausformungen geführt: Dass man keine Leitern benutzte, weil man dachte, dass es authentischer sei, wenn man ein Hanfseil hochkletterte. Aber das ist doch wunderbar. Darüber kann man doch lachen.

Noch einmal zum Wert der klaren Haltung: Ist es schon ein Wert an sich, wenn der Sohn am Ende beschließt, zur Bundeswehr zu gehen?

Es gibt ja ein paar Parallelen zwischen mir und der Figur des Sohnes in „Am Tag als Bobby Ewing starb“, und das ist eine davon: Ich war bei der Bundeswehr und ich kann sagen: Meine Mutter hatte Recht, es ist dumm, zum Militär zu gehen. Aber ich hatte das Gefühl, ich müsste es tun, um mich zu emanzipieren. Insofern traf diese Entscheidung meine Mutter schlimmer als mich.

So wie Sie Filme für RTL drehen? Auch das hätte die Elterngeneration nicht erfreut.

Ich habe lange einem Amerikaner assistiert, George Moorse, dem ich auch „ Bobby Ewing“ gewidmet habe. George war jemand, der als Dichter nach Deutschland gekommen ist, der den Bundesfilmpreis für einen Experimentalfilm gewonnen hat und ein Wegbereiter des neuen deutschen Film war. Leute wie Faßbinder und Wenders haben in den 60ern für ihn gearbeitet. Und gleichzeitig hat George die „Lindenstraße“ gemacht! Einer seiner Leitsprüche hätte sein können: „Popculture ist not the enemy!“ Das war für mich, der aus Zusammenhängen kommt, die in dem Film beschrieben sind – also sehr ernsthaften – ein großer Schritt.

Interview: Friederike Gräff