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Chemische Revolution im Rechner

VON REINHARD WOLFF

Solarzellen mit besserem Wirkungsgrad, neue Arzneimittel oder die Optimierung der katalytischen Abgasreinigung: Beim diesjährigen Chemienobelpreis geht es um Computersimulationen, die solche Entwicklungen erst möglich machten, die „Mehrschalenmodelle für komplexe chemische Systeme“.

Chemische Reaktionen gehen blitzschnell vonstatten. Im Bruchteil einer Millisekunde springen Elektronen von einem Atomkern zu einem anderen. Es ist praktisch unmöglich, jeden kleinen Schritt in einem chemischen Prozess experimentell abzubilden.

Grundlage der meisten Fortschritte, die heute auf dem Gebiet der Chemie gemacht werden, sind deshalb weniger die klassischen Laborexperimente, sondern die Entwicklung wirklichkeitsnaher Computermodelle. Für solche leistungsstarken Programme, die nötig sind, um diese komplexen Reaktionen zu verstehen und vorherzusagen, hätten die Preisträger in den 1970er-Jahren Grundlagen gelegt, die mittlerweile weltweit benutzt werden, heißt es in der Begründung der Schwedischen Akademie der Wissenschaften.

Geehrt werden Martin Karplus, Professor emeritus in Harvard sowie an der Universität Straßburg, Michael Levitt, Professor in Stanford, sowie Arieh Warshel, Professor an der University of Southern California. Alle drei sind US-Bürger, aber nicht in den USA geboren. Warshel kommt aus Israel, Karplus aus Österreich und Levitt hat neben der US-Staatsangehörigkeit noch die britische und israelische.

Ihre Arbeit wird als „bahnbrechend“ eingeschätzt, weil sie es geschafft hätten, einen Weg zu finden, auf dem sich „Newtons klassische Physik mit der grundlegend unterschiedlichen Quantenphysik kombinieren“ lasse.

Vor der Arbeit dieser drei Berechnungsmodell-Pioniere sei das Dilemma der Chemiker gewesen, sich für ein „entweder – oder“ entscheiden zu müssen, schreibt die Akademie: „Die Stärke der klassischen Physik war, dass ihre Berechnungen einfach waren und für Modelle wirklich großer Moleküle verwendet werden konnten. Ihre Schwäche aber, dass sie keine Möglichkeiten bot, chemische Reaktionen zu simulieren. Zu diesem Zweck mussten Chemiker die Quantenphysik nutzen. Aber solche Berechnungen erforderten eine enorme Rechenleistung und konnten daher nur für kleine Moleküle durchgeführt werden.“

Die diesjährigen Chemiepreisträger hätten „das Beste weiter Welten vereinigt“. Die Nobeljury vergleicht deren Lösung mit einem Foto, auf dem nur ein Bereich detailliert abgebildet wird und der Rest unscharf bleibt. Wenn es beispielsweise darum gehe, wie sich ein Medikament an sein Zielprotein im Körper binde, führe der Computer „die quantentheoretischen Berechnungen der Atome im Zielprotein durch, das mit dem Medikament interagiert. Den Rest des großen Proteins simuliert man mit der weniger fordernden klassischen Physik.“

Durch diese Ausschlusstechnik hätten die Preisträger die zu verarbeitende Datenmenge kräftig reduzieren können. Oder wie es der Vorsitzende des Chemienobelkomitees Sven Lidin formulierte: „Sie haben den geheimen Handschlag zwischen klassischer Chemie und Quantenchemie gefunden.“ So bedarf es nicht mehr riesiger Rechenzentren, um chemische Reaktionen zu simulieren, und die Forscher können sich auf die Prozesse beschränken, die gerade für sie interessant sind, was Zeit, Geld und Ressourcen spart.

Die fraglichen Berechnungsmodelle seien beispielsweise ein Muss für Forscher geworden, die an künstlicher Fotosynthese arbeiteten und versuchten das Geheimnis der Natur zu knacken, Sauerstoff und Zucker aus Kohlendioxid, Wasser und der Energie der Sonnenstrahlen zu produzieren, meint Gunnar Karlström, Mitglied des Nobelkommittes und Professor für theoretische Chemie: Das könne dazu beitragen, das Problem des Treibhauseffekts zu lösen.

Vielleicht könne man einmal sogar einen kompletten lebenden Organismus simulieren, beschrieb Michael Levitt, mit 66 Jahren der jüngste der Preisträger, sein Traumziel.

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