Demut und Übermut

ERINNERUNGEN Was die Kunst der Orthodoxie voraushat: Benjamin Steins Roman „Die Leinwand“

„Nicht Aufklärung ist Zweck der Dichtung, sondern dass uns ein fremdes Gefühl erreichen kann, als wäre es unser eigenes“

Benjamin Stein

VON ULRICH GUTMAIR

Katholizismus ist sexy, weil sich seine jahrtausendealte, strenge Form der Beliebigkeit der Trends, Moden und Strömungen widersetzt. Diese Behauptung war der größte Hit des neukonservativen Feuilletons der Nullerjahre. Auch ultralinke Theoretiker wie Slavoj Zizek und Alain Badiou variierten das Thema gern. Steht die Kirche nicht für eine Wahrheit, die sich dem sinnlosen Marktgeschehen entzieht?

In einer Welt, in der quasi alles erlaubt und fast nichts verboten ist, in der 24 Stunden täglich gearbeitet und geshoppt werden kann, erweisen sich Orthodoxien als ultimative Objekte des Begehrens. Kaaba, Kippa, Katechismus – wo, wenn nicht hier, ist noch Authentisches, Wahres, Echtes zu finden? Und was außer einem göttlichen Gebot wäre in der Lage, die manische Maschine der Gegenwart wenigstens für einen Moment zum Anhalten zu bewegen?

Was dem Feuilletonkatholizismus recht ist, soll der jüdischen Gegenwartsliteratur billig sein. „Schabbes ist eine Insel in der Zeit, auf der du alle sieben Tage ausruhen kannst“, heißt es in Benjamin Steins Roman „Die Leinwand“. Der 1970 geborene Stein erzählt uns darin viel aus dem Leben modern orthodoxer Juden. Wie um zu beweisen, dass auch Rechtgläubigkeit ultramodern sein kann, hat er eine avantgardistische Form gewählt. Man muss seinen Roman von vorne und von hinten lesen.

Fängt der Leser auf der einen Seite an, erzählt ihm zuerst Amnon Zichroni seine Geschichte. Wird das Buch umgedreht und auf den Kopf gestellt, präsentiert es ein zweite Erzählung, in der Zichronis Antagonist Jan Wechsler über sein Leben berichtet. Man kann es aber auch umgekehrt halten mit der Reihenfolge oder, wie ein kurzer Vermerk am Anfang anregt, kapitelweise die Richtung wechseln. Die Geschichten bewegen sich auf einen Punkt zu, an dem sich die Hauptfiguren treffen.

Beide sind sie orthodoxe Juden, die den Lesern Einblick in ihren Alltag gewähren. Sie reden über die Brachot, die Segenssprüche, die nach dem Aufwachen und vor jeder Mahlzeit gesprochen werden sollen. Über die verschiedenen europäischen und orientalischen Traditionen, die Schaufäden des Gebetsschals zu knoten. Und über die vielen Gebote, die es zu beachten gilt: „Man muss eine Affinität zum Spirituellen haben, um über Verbote zu wachen, die wissenschaftlich nicht zu begründen sind, sondern nur in einer mystischen Dimension von Gehorsam, Demut und seelischer Reinheit bedeutsam werden“, sagt einer der Protagonisten.

Beiden hat Stein, der sich selbst als moderner Orthodoxer versteht, Autobiografisches mit auf den Weg gegeben. Der Therapeut Amnon Zichroni teilt Steins Liebe für die weltliche Kunst, die sich für viele orthodoxe Juden außerhalb des Kreises der Texte und Bilder befindet, die es für ein gottesfürchtiges Leben braucht. Zichroni versteht die Künste als Ort, an dem Gott und seiner Schöpfung auf eigene Weise gehuldigt wird. Die zweite Figur, Jan Wechsler, ist Autor und Verleger wie sein Schöpfer Stein. (Soeben gab Stein im kleinen Verbrecher-Verlag einen Band mit den Gedichten seiner Mentorin Charlotte Grasnick heraus.)

Er hat etwas verdrängt

Jan Wechsler – nomen est omen – muss jedoch feststellen, dass er nicht derjenige ist, der er zu sein glaubt. Seine vermeintliche Vita, die in vielen weiteren Details derjenigen Steins ähnelt, wird infrage gestellt, als er eines Tages einen Koffer voller Bücher und Dokumente zugestellt bekommt, den er nicht als seinen erkennen kann. Anscheinend ist er nicht wie Stein im „Kleinen Land“, der DDR, geboren und als Heranwachsender dem Ruf der jüdischen Tradition gefolgt, die seine Großeltern von sich wiesen. Er hat etwas verdrängt, was ihn nun einholt: In seinem früheren Leben hat er sich einen Namen in einer Affäre gemacht. Er hat einem Mann namens Minsky dessen falsche Identität entrissen und ihn des kalt geplanten Betrugs bezichtigt.

Hinter der Figur des Minsky steckt Binjamin Wilkomirski, der Mitte der Neunzigerjahre in der wirklichen Welt mit einem kleinen Bändchen an die Öffentlichkeit trat. Darin berichtete der Mann, der als Adoptivkind in einer wohlhabenden Zürcher Familie aufgewachsen war, von seinen Erinnerungen als jüdisches Kind in den Vernichtungslagern Auschwitz und Majdanek. In drastischen, an den Erzählweisen des Kinos geschulten Beschreibungen schilderte Wilkomirski, was er zu erinnern glaubte. Später stellte sich aber heraus, dass Wilkomirski nicht der war, als der er sich erinnerte, sondern derjenige, der er offiziell immer gewesen war: Ein unehelich geborenes Kind einer Arbeiterin aus Biel, das von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht wird, wo es ihm schlecht ergeht.

Wilkomirski hatte Jahrzehnte daran gearbeitet, den Bildern aus seiner Kindheit, die ihn quälten, einen Sinn zu geben. Ihn hatte er in der Geschichte eines Kindes gefunden, dem man seine Vergangenheit geraubt hatte. Freunde, Therapeuten und Überlebende der Konzentrationslager hatten ihn dabei unterstützt, seine Erinnerung wiederzufinden. Am Ende hatte Wilkomirski aus Erzählungen von echten Überlebenden, Büchern und Filmen Erinnerungen gebastelt, die echter klangen als die Erinnerungen von Leuten, die dem Terror der Nationalsozialisten tatsächlich ausgesetzt waren.

Die falschen Erinnerungen Wilkomirskis waren hoch emotional rezipiert worden, weil sie, wie Kritiker hernach analysierten, perfekt der Erwartungshaltung des Publikums und der gewünschten Erzählweise entsprachen. Die Affäre lenkte die Aufmerksamkeit so auch auf das Paradox, das entsteht, wenn die Erinnerung an die Massenvernichtungsmaschinerie der Nazis, den Abgrund der Moderne universalisiert wird: Die Erinnerung an ihre Opfer fordert Empathie, die ohne notgedrungen falsche, weil immer angemaßte Einfühlung nur schwer zu haben ist.

Ist der Leser von Steins Roman einmal der Wilkomirski-Fährte gefolgt und hat die Suchmaschine angeworfen, wird deutlich, dass „Die Leinwand“ auf der Geschichte dieses Skandals basiert. In Amnon Zichroni lässt sich Wilkomirskis Freund und Therapeut Elitsur Bernstein wiedererkennen. Ihm wurde zum Vorwurf gemacht, durch seine therapeutischen Ideen maßgeblich zur Konstruktion der falschen Erinnerungen Wilkomirskis beigetragen zu haben. Während die Vita des „falschen“ Wechsler der seines Autors ähnelt, hat für den „echten“ Wechsler wiederum der Schweizer Schriftsteller Daniel Ganzfried Pate gestanden, der Wilkomirski auffliegen ließ.

Stein lässt nun seinem Enthüllungsautor das widerfahren, was dieser seinem Gegenspieler Minsky einst vorgeworfen hatte: aus niederen Motiven aus seinem wahren Leben zu fliehen. Aber einen entscheidenden Unterschied gibt es zwischen Minsky und Wechsler laut Stein dann doch: Der eine flüchtet aus seelischer Not in seine falschen Erinnerungen, der andere will von der Gnadenlosigkeit nichts mehr wissen, mit der er den Fälscher verfolgt hat. „Ich muss annehmen, dass ich Minsky in Artikeln und einem hämischen Buch an den Pranger gestellt habe, weil er den Verrat an sich selbst verweigerte“, stellt Jan Wechsler irgendwann nüchtern fest. Sein Autor erklärt im Nachwort zu den Gedichten Charlotte Grasnicks: „Schließlich ist nicht Aufklärung via Ratio Zweck der Dichtung, sondern dass uns ein fremdes Gefühl erreichen kann, als wäre es unser eigenes.“

Es mag sein, dass man nach den säkularen Kriterien aufgeklärter Wissenschaft sagen kann, was wahr und was falsch ist. Wenn man die Wahrheit aber nicht nach ihrem moralischen Gehalt fragt, dann verfehlt man sie, glaubt Amnon Zichroni: „Was ist die Wahrheit, die tötet, wert gegenüber einer Wahrheit, die jemanden leben lässt?“ Zu einer guten Wahrheit wiederum gelangt für den Erzähler nur der, der sich in Demut übt. Das ist erste Aufgabe jedes Rechtgläubigen, der sein Leben vom Ewigen nur geliehen bekommen hat.

Erschaffung eigener Welten

In Demut sollen sie sich also üben, die Figuren der „Leinwand“, stattdessen richten sie mit ihrer Hybris sich und die anderen zugrunde. Aber ist es nicht auch ein Fall von auktorialer Hybris, alles besser wissen zu wollen als seine Protagonisten? Stein beantwortet die Frage zum einen mit den grandiosen Fantasien eines Jungen aus Ost-Berlin: „Für das Rudern hatte ich mich entschieden, weil mir der Sport als der kürzeste Weg zum Ruhm erschien.“ Zum anderen stellt sich der Autor in der Figur des Jan Wechsler als Person gleich selbst in Frage: Was wäre, wenn alles anders gekommen wäre, wenn ich nicht ich selbst gewesen, sondern ein anderes Leben gelebt haben würde?

Es schlagen zwei Herzen in den modernen orthodoxen Figuren Steins. Das eine strebt nach Demut, das andere kann von der Kunst nicht lassen. Ihr, sagt Jan Wechsler, geht es nicht um Bescheidenheit und Demut. Den Übermut zur Erschaffung eigener Welten, in denen sich der eine in den Gefühlen des anderen erkennen kann – und zwar ohne göttliche Vermittlung: Das hat die Kunst der Orthodoxie voraus.

Benjamin Stein: „Die Leinwand“. Beck, München 2010, 416 Seiten, 19,95 €