7.000 Becquerel pro Kilo Wildschwein

Leben mit Tschernobyl: Noch immer sind in weiten Teilen von Süddeutschland, Österreich, Finnland oder Schweden Tier- und Pflanzenwelt radioaktiv verseucht. Wissenschaftler warnen deshalb vor dem Verzehr von Pilzen, Beeren oder Wildfleisch

„Beeren und Pilze aus dem Bayerischen Wald gehören nichtauf den Esstisch“

VON REINHARD WOLFF
UND BENJAMIN WÜNSCH

Auch 20 Jahre nach der radioaktiven Wolke sind die Strahlenbelastungen immer noch messbar: Der Wert von Cäsium im Fleisch von Wildschweinen aus dem Bayerischen Wald etwa überschreitet den EU-Grenzwert weiterhin – um ein Vielfaches.

Nach der Explosion des Reaktorblocks 4 in Tschernobyl bewegte sich die radioaktive Wolke zuerst nach Norden Richtung Skandinavien. Danach ging auch in weiten Teilen Mitteleuropas radioaktiver Fallout nieder. Besonders die Winde um den 1. Mai brachten Österreich, der Schweiz und Süddeutschland eine große Strahlendosis. Das radioaktive Metall Cäsium-137, einer der Hauptbestandteile der Tschernobyl-Wolke, bleibt im Wald sehr lange in den oberen Bodenschichten liegen.

Noch heute sind Waldbeeren und Pilze in Südbayern und vor allem im Bayerischen Wald radioaktiv verseucht. „Bei den Wildbeeren sind Heidelbeeren und Preiselbeeren am höchsten belastet, bei den Pilzen sind es vor allem Maronenröhrlinge und Semmelstoppelpilze“, erklärt Arthur Junkert, Sprecher des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS). Wildschweine liefen im Jahr 2004 mit einer durchschnittlichen Belastung von 7.000 Becquerel pro Kilo durch den Bayerischen Wald. Der Wert von unbelasteten Schweinen liegt etwa bei 200 Becquerel.

Die radioaktive Belastung von Wald und Wild mit Cäsium-137 wird sich laut BfS absehbar kaum ändern. Cäsium-137 hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren. „Wer seine Strahlenbelastung so gering wie möglich halten möchte, sollte auch heute noch auf den Verzehr von vergleichsweise hoch kontaminierten Pilzen und Wild aus den besonders betroffenen Regionen verzichten“, rät Junkert daher.

Noch höhere Strahlenwerte als in Süddeutschland werden bis heute in Skandinavien gemessen, insbesondere in Südfinnland und Mittelschweden. „Die Cäsiumgehalte sinken wesentlich langsamer als erwartet. Und wir wissen eigentlich nicht, warum.“ Leif Moberg, Forschungschef am staatlichen schwedischen Strahleninstitut SSI, hat 20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe noch immer mit den Folgen der radioaktiven Wolke zu tun. Etwa fünf Prozent des damals in Tschernobyl freigesetzten Cäsiums regnete in einem breiten Streifen quer über Mittelschweden ab. Und landet noch immer im Körper der Menschen, die dort gesammelte Beeren und Pilze oder Wildfleisch und Süßwasserfische aus diesen Gegenden verzehren.

Doch gefährlich soll das laut SSI nicht einmal für die dort lebenden Großkonsumenten solcher Nahrung, wie Jäger und Sami, sein. Nur einige Zehntel Microsievers pro Jahr kämen so zusätzlich zusammen, und damit sei „ein erhöhtes Krebsrisiko unwahrscheinlich“, sagt Mohberg. Dank spezieller Kaliumdüngung fast verschwunden ist das Tschernobyl-Cäsium in Schweden dagegen aus den landwirtschaftlichen Anbauflächen. Mohberg: Im Rentierfleisch seien durch Umstellung des Winterfutters die Cäsiumwerte auf ein Zehntel derer unmittelbar nach Tschernobyl gesunken.

Die Gefahr, die von den erhöhten Strahlungsbelastungen für den Menschen ausgeht, ist nach Aussagen der Gesellschaft für Strahlenschutz (GfS) immer noch groß. Nicht nur in den Jahren unmittelbar nach der Katastrophe traten Stoffwechselerkrankungen und Krebs in den süddeutschen Gebieten besonders häufig auf. Noch heute ist das Risiko dort besonders hoch, sagte Thomas Dersee von der GfS – vor allem für Kinder. Typisch sei, dass Krebserkrankungen durch Strahlenbelastung oft erst nach mehreren Jahrzehnten ausbrechen. Dersee: „Pilze oder Beeren aus dem Bayerischen Wald gehören nicht auf den Tisch!“

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