Dem Energiefeld auf der Spur

ZEITREISE Vor 30 Jahren traf man sich am Wasserklops oder an der Gedächtniskirche – denn den Breitscheidplatz selbst hat es eigentlich nie gegeben. Nun sollen Neubauten und Sanierungen das Areal in die Zukunft führen. Wer den Platz von früher kennt, muss sich bereits neu orientieren

Die Webseite für das Bikini-Haus behauptet, der Standort habe die höchste Passantenfrequenz Berlins

VON ULRIKE STERBLICH

Vor einiger Zeit habe ich an einer Feng-Shui-inspirierten Stadtführung über das Kulturforum teilgenommen. Es ging darum, die Energien des Platzes auf sich wirken zu lassen, um herauszufinden, was gut wäre für diesen Platz. Ich habe nicht die geringste Ahnung von Feng Shui und habe bei dieser Führung schändlicherweise nur mitgemacht, um hinterher etwas Launiges darüber zu schreiben. Dabei fand ich es als Idee gar nicht uninteressant, einen Ort selbst zu befragen, wie er denn so drauf ist und wie er demzufolge bebaut und beplant werden sollte. Seit der Feng-Shui-Stadtführung spüre ich ganz gern mal den Energien von Plätzen nach, wenn es sich denn so ergibt.

Nun stehe ich also auf dem Breitscheidplatz.

Eben, als ich vom Bahnhof Zoo aus hierher gelaufen bin, wurde mir klar, dass ich seit fast einem Jahr nicht mehr da war. Klar, ich wohne mittlerweile ziemlich weit im Osten der Stadt, weiter jedenfalls, als es vor 25 Jahren möglich gewesen wäre. Andererseits hatte ich vor 25 Jahren auch keine kürzeren Anfahrtswege und war trotzdem jedes zweite Wochenende am Breitscheidplatz unterwegs.

Nächster Grund also: Ich bin älter jetzt und gehe dementsprechend weniger aus. Aber, und auch das ist auf jeden Fall ein triftiger Grund, selbst wenn man jung und nachtaktiv ist, hat einem die City West heute nicht mehr viel zu bieten. Kinos, Clubs (früher: „Diskotheken“), Bars – dafür fährt keiner mehr zum Ku’damm. Und, natürlich, der Bahnhof Zoo ist kein Fernbahnhof mehr.

Tagsüber ist hier allerdings nicht weniger Betrieb als vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren – und auch nicht weniger als am Alexanderplatz, den ich an diesem Tag ebenfalls schon passiert habe. Menschen schlendern mit Tüten voller Shoppingbeute vorbei, Touristen fotografieren den Weltkugelbrunnen (die Berliner nennen ihn Wasserklops), und ein gar nicht mal so junger Mann führt zu Musikbeschallung Kunststücke auf drei Skateboards vor, bestaunt von mehreren Schulklassen auf Berlinfahrt. Die Webseite für das neue Bikini-Haus behauptet sogar, der Standort habe mit achttausend Passanten stündlich die mit Abstand höchste Passantenfrequenz in Berlin.

Bauboom für den kulturellen Wandel

Nun soll ein Bauboom einen kulturellen Wandel bringen, man hatte wohl Angst, dass die Gegend verkommt und verfällt und zur Billigmeile wird.

Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr fällt mir auf, dass es den Breitscheidplatz eigentlich gar nicht gibt. In meiner Kindheit stand er ganz im Schatten des Kurfürstendamms. Generell fuhren wir zum Ku’damm. Niemand fuhr jemals zum Breitscheidplatz. Und wenn man mal einen Treffpunkt in der Gegend brauchte, dann benannte man dafür entweder den Wasserklops, die Gedächtniskirche oder den seitlichen Eingang vom Europa-Center neben Mövenpick. Nur so als Beispiel. Jedenfalls sagte keiner: „Wir treffen uns am Breitscheidplatz.“

Mit einer Ausnahme. Wenn die Parole in der Vergangenheit doch einmal „Treffpunkt Breitscheidplatz“ hieß, dann handelte es sich dabei ganz sicher um eine Demo. Mit dem Alter, in dem man anfing, auf Demos zu gehen, kam deshalb auch die Erkenntnis, dass der Platz, auf dem die Gedächtniskirche steht, überhaupt einen eigenen Namen hat. Als Jugendliche hatten wir das zuvor kaum registriert.

Was ist er aber heute, der Breitscheidplatz? Und was wird aus ihm werden, wenn der Umbau der City West abgeschlossen ist?

Für meine Feng-Shui-Kommunikation mit den Energien des Breitscheidplatzes habe ich mir zunächst ein Plätzchen auf einer der zum Brunnen gehörigen runden Steinbänke aus rotem Granit ausgewählt. Nun gebe ich mir alle Mühe, die relevanten Energiefelder auf mich wirken zu lassen. Irgendwie klappt es aber nicht. Der Platz ist unruhig. Er vibriert – besonders wenn unten durch den U-Bahn-Tunnel gerade ein Zug fährt. Hinter mir werden außerdem noch die Aufbauten der Funkausstellungs-Trendshow „City West celebrates IFA“ abgebaut, und das Wasser vom Brunnen macht auch ein ziemliches Getöse.

Was mir aber auffällt: Das Bild, der Charakter dieses Ortes hat sich tief in meine West-Berliner DNA geschrieben. Ich begegne hier einem Urbild meiner Kindheit und Jugend, ich sitze mittendrin. Und solange die Blickrichtung fest aufs Europa-Center gerichtet bleibt, ist tatsächlich auch alles beim Alten. Dass die Royal-Palast-Kinos vor sieben Jahren abgerissen und durch die schwarze Fassade eines Elektronikgroßladens ersetzt wurden, kann ich von hier aus nämlich gerade nicht sehen.

Wenn ich mich nach links drehe, sehe ich allerdings, dass das Bikini-Haus aktuell eine Großbaustelle ist, die mit Plakaten auf den Bauzäunen dafür wirbt, dass man hier demnächst kaufen, essen, trinken, schlafen, fühlen und schmecken können wird. Das sind ja auch alles schöne Sachen, fehlt nur noch: tanzen. Denn schließlich gehörte zum Bikini-Haus seit den 1980er Jahren auch das einstmals angesagte Tanzlokal Linientreu, das sich am Schluss nur noch durch mäßig besuchte Retro-Abende über Wasser hielt.

Essen hingegen konnte man vor allem im Tai Tung, einem der traditionsreichsten China-Restaurants der Stadt, das auch durch sein berühmtes, absolut singuläres Werbeplakat bei der äußeren Ecksäule an der Zoo-Seite des Hauses glänzte. Es zeigte Harald Juhnke, Schwiegersohn des Inhabers, wie er grinsend und mit Essstäbchen in der Hand vor einer riesigen lackierten Pekingente sitzt. Nun ist Harald Juhnke tot, das Plakat weg und das ganze Bikini-Haus eine Baustelle, aus der hoffentlich etwas Schönes hervorgeht.

Mit diesem frommen Wunsch beende ich meine kümmerliche Feng-Shui-Meditation und wandere rüber auf die andere Seite vom Breitscheidplatz.

Wo nun gar nichts mehr ist, wie es war.

Nachdem vor vier Jahren der als Brücke über die Kantstraße verlaufende Teil des Schimmelpfeng-Hauses komplett abgerissen wurde, ist nun auch der flachere Riegel des Hauses direkt am Platz verschwunden, jenes Haus, in dessen erster Etage dreißig Jahre das große Plattengeschäft City Music residiert hatte.

Auf dem Dreieck zwischen Kant- und Hardenbergstraße steht das neue Zoofenster mit dem Waldorf-Astoria-Hotel, und direkt am Breitscheidplatz wird aktuell am geplanten „Upper West“-Hochhaus gebaut. Schon nach wenigen Schritten in Richtung Zoofenster versagt mein historischer Kompass. Ich kann mir nicht mehr in Erinnerung rufen, wie und wo hier gerade eben noch etwas anderes stand.

Wo begann und wo endete noch mal das Schimmelpfeng-Haus? Wo ragte das andere, halbrund gebaute China-Restaurant unter dem Haus hervor? Wurde auch die Straßenführung verändert? Wahrscheinlich.

Ein gar nicht mal so junger Mann führt zu Musikbeschallung Kunststücke auf drei Skateboards vor

Unten im Waldorf Astoria gibt es ein Café, das mit dem Namen „Romanisches Café“ explizit an die Tradition des ehemals legendären Künstler- und Intellektuellentreffpunktes des frühen zwanzigsten Jahrhunderts anknüpfen möchte. Das originale Romanische Café residierte im Romanischen Haus, das seinerseits dort stand, wo sich jetzt das Europa-Center befindet. Zu den Stammgästen zählten so berühmte und illustre Persönlichkeiten wie Alfred Döblin, Bertolt Brecht, Billy Wilder, Rudolf Steiner und Else Lasker-Schüler.

Ich denke nicht, dass irgendwer ernsthaft damit rechnet, dass sich ein Café im Erdgeschoss vom Waldorf Astoria zu ähnlicher Bedeutung aufschwingen wird, und das Ambiente legt nahe, dass es dort auch nicht gewünscht sein wird, sich so aufzuführen wie die Boheme der zwanziger Jahre in ihrem damaligen Haifischbecken. Aber immerhin ist der Name eine Reminiszenz, reproduzieren lassen sich Legenden ohnehin nicht.

Ich passiere noch einmal die Gedächtniskirche, die nach und nach wieder hinter ihrer Restaurierungsfassade zum Vorschein kommt, überquere den Platz wieder am Brunnen entlang und trete ein ins Europa-Center. Das Restaurant Mövenpick wirbt im Eingangsbereich in einem mit Sektgläsern und Partyhütchen dekorierten Schaukasten für sein Silvester-Galabuffet, eine sicherlich nicht uninteressante Veranstaltung mit Zeitreisequalitäten, so wie das Europa-Center selbst.

Obwohl. Im Europa-Center-Inneren ist es wie immer fast leer, das Shopping- und Verkehrsaufkommen von Ku’damm und Tauentzien bleibt draußen, nur ein paar ältere Touristen stehen vor der „Uhr der fließenden Zeit“ und freuen sich über die Knobelaufgabe. Schön ist immerhin die große bunte Glaslampe, die sich über den Rolltreppen in der Decke spiegelt.

Ansonsten aber herrscht hier eine Trostlosigkeit, die sich noch nicht einmal durch intensives Suhlen in nostalgischen Jugenderinnerungen besänftigen lässt. Den Geist des originalen Romanischen Cafés würde selbst ein Feng-Shui-Meister nicht mehr erspüren können.

Welche neuen Geister sich in Zukunft am Breitscheidplatz und um den Breitscheidplatz herum niederlassen werden, bleibt abzuwarten. Aus architektonischen Modellen und Computersimulationen lässt sich Derartiges kaum ersehen, ich werde wohl wieder herkommen und es selbst erleben müssen beziehungsweise dürfen. Auf die Neueröffnungen von Bikini-Haus und Zoo-Palast, aber auch auf die der C/O-Galerie im Amerika Haus freue ich mich schon mal vorsichtig. Der City-West-Boom kann von mir aus gern kommen.

Wieder zu Hause mache ich am Computer eine hübsche Entdeckung: Mit Hilfe von Google Street View kann ich meinen historischen Kompass wieder kalibrieren. Das gesamte Schimmelpfeng-Haus steht noch da, und das Bikini-Haus ist keine Baustelle. Alles sieht weitgehend genauso aus wie in den achtziger Jahren, inklusive Harald-Juhnke-Plakat mit Pekingente. Auch mal schön, wenn Google mehr Retro bietet als die West-Berliner Innenstadt.

■ Ulrike Sterblich ist Schriftstellerin. 2012 erschien von ihr „Die halbe Stadt, die es nicht mehr gibt. Eine Kindheit in Berlin (West)“