Ein Leben voller Ausrufezeichen

DIE SICHTBARKEIT JÜDISCHER BIOGRAFIEN Drei sehenswerte Porträtfilme laufen beim Jewish Film Festival Berlin

Das jüdische Festival macht keine inhaltlichen, sondern formale Vorgaben: Man will mit den jüdischen Filmen Juden und Nichtjuden ins Gespräch bringen

Die deutsche Kultur habe sie angefangen zu lieben, als sie sich in in ihren Deutschlehrer verguckt habe, erzählt die elegant geschminkte, greise Dame mit den goldenen Ohrringen. Als sie das Stipendium in Köln bekam und sich aus Brooklyn nach Deutschland aufmachte, habe ihre Mutter jedoch die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen: „Geh nicht, Ruth, Du wirst dort sofort umgebracht!“ Denn es war 1931, Adolf Hitler wurde immer mächtiger. Und Ruth Gruber ist Jüdin. Das dickköpfige Fräulein Ruth ging trotzdem, studierte ein Jahr lang an der Uni in Köln und promovierte 20jährig mit einer Arbeit über Virginia Woolf. In Ruth Grubers Leben jagt ein Ausrufezeichen das nächste: Gruber wurde die erste US-Reporterin, die mit einer sowjetischen Reisegruppe in die Arktis reisen durfte. Für den Herald Tribune, in dessen Herausgeberin sie eine ebenso an Frauenrechten interessierte Mitkämpferin fand, verfasste sie „Womenstudies“: Berichte über Frauenleben im Faschismus und Kommunismus. Während des Zweiten Weltkriegs beförderte das US-Innenministerium sie für einen Bericht über jüdische Flüchtlinge zum General – damit die Nazis sie nicht erschießen, falls sie von ihnen gefasst werden sollte. Nach dem Krieg war sie Zeugin, wie das von der Royal Navy attackierte Flüchtlingsschiff „Exodus“ im Hafen von Haifa anlegen musste. Das Foto der jüdischen Überlebenden an Bord hinter einem Stacheldrahtzaun, die als Reaktion auf den schockierden Angriff ein Hakenkreuz auf einen Union Jack gemalt hatten, wurde weltberühmt.

„Ahead of Time“, der Dokumentarfilm über Ruth Gruber von Robert Richman, verlässt die rührige Dame in dem Augenblick, als sie – zumindest ein wenig – privat wird: Die Zeit nach 1950, Heirat und Kinder, mehrere Bücher und Reisen kommen nicht mehr vor. Ein solch reichhaltiges Leben lässt sich vielleicht einfach nicht in 90 Minuten solide Doku stopfen. Aber durch „Ahead of Time“ hat man wieder eine herausragende, jüdische Biografie mehr kennengelernt. Und das will das Festival erreichen: Das Sichtbarmachen, das In-Erinnerung-Rufen von jüdischem Leben.

“Wer weiß denn schon, dass André Previn in Berlin geboren ist, in Schöneberg gelebt hat?“ fragte die Festivalleiterin Nicola Galliner beim Presseempfang. Die Doku „André Previn – Eine Brücke zwischen den Welten“ über den Filmkomponisten, Dirigenten und Jazzpianisten dümpelt visuell zwar durch das Videomaterial eher armselig herum, webt aber mit eigenwilligen O-Tönen – unter anderem von Previns Exfrau Mia Farrow oder seinem tätowierten Hardrockersohn – ein recht dichtes Bild des Musikers.

Die durch viel Dokumentarisches traditionell etwas maue Bildstärke wieder etwas aufpolstern kann der Essayfilm „Room and a Half“ von Andrey Khrzhanowsky über den russischen Dichter und Nobelpreisträger Josph Brodsky. Langsam und bedächtig, aber lyrisch und somit wunderbar passend spielt Khrzhanowsky mit den Erinnerungen des Dichters, komponiert Impressionen aus Vergangenheit und Gegenwart mit Animationen und Musik zu einem Film, der mehr einem Gedicht als eine Biografie gleicht, und erinnert in seiner spielerischen Absurdität an Fellini.

Das jüdische Festival macht eben keine inhaltlichen, sondern formale Vorgaben: Man will mit den jüdischen Filmen „Juden und Nichtjuden ins Gespräch bringen“, erklärt die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Lala Süsskind, im Vorwort des Programms. Dass das noch immer nötig ist und sich Berliner Juden nicht genug in allen anderen Festivals aufgehoben fühlen, ist eigentlich schade. Doch im Gegensatz zu manchen Themenfestivals, bei denen der geforderter gemeinsame Nenner auch mal ein sehr kleiner sein kann, braucht man sich über das Talent jüdischer FilmemacherInnen nicht zu sorgen. Schließlich wurde die US-Filmgeschichte von ihnen geschrieben. JENNI ZYLKA

Programm unter www.jffb.de