Die Schläfer der ersten Stunde

Viele Schüler sind morgens alles andere als munter. Biologen und Pädagogen fordern deshalb, dass der Unterricht erst ab neun Uhr beginnen soll. In der kommenden Woche zeigt sich, ob Baden-Württembergs Kinder künftig länger im Bett bleiben dürfen

Wenn der Wecker morgens bei Teenagern klingelt, ist es für sie biologisch erst kurz nach Mitternacht

VON ANNEGRET NILL

Für Lilo Bielz-Erman fängt der Tag früh an. Kurz nach sechs Uhr weckt sie ihre drei Kinder. Um halb sieben wird gefrühstückt. Spätestens zehn nach sieben ist die Mutter mit ihren neun bis zwölf Jahre alten Kindern auf dem Weg nach Berlin, um pünktlich zum Schulbeginn um Viertel vor acht dort zu sein.

„Eigentlich wären meine Kinder gern ein paar Minuten vorher in der Schule, um sich mit Freunden austauschen zu können. Das klappt aber meistens nicht. Es gibt immer jemanden, der etwas länger braucht“, sagt Bielz-Erman.

Bundesweit bewegen sich die Schulanfangszeiten bei staatlichen Schulen zwischen 7.15 Uhr – die 0. Stunde im Berliner Osten – und 8.15 Uhr. Dem meist recht ausgeschlafen wirkenden baden-württembergischen Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) ist das zu früh. Im Wahlkampf hatte er mit dem Slogan „Kinderland Baden-Württemberg“ damit getönt, er würde den Schulbeginn „eine halbe oder ganze Stunde“ nach hinten verschieben. So könnten die Familien im Ländle in aller Ruhe mit ihren Kindern frühstücken.

Cornelia Runge, Homöopathin und Mutter einer Erstklässlerin, braucht Oettingers Engagement nicht. Ihre Tochter besucht eine Freie Schule, an der der Unterricht erst um 9.15 Uhr beginnt. So haben Mutter und Tochter Zeit, ohne Stress in den Tag zu starten. Gegen acht Uhr wacht sie sowieso auf. Zum Frühstücken hat sie noch keine Lust. „Wir werden beide erst auf dem Weg zur Schule richtig wach und hungrig, gemeinsam frühstücken können wir dort“, sagt sie.

Seit Januar ist von Oettingers Langschläfer-Initiative für alle Schulen nichts mehr zu hören. Ob der mittlerweile wiedergewählte Ministerpräsident sein Anliegen in die derzeit laufenden Koalitionsverhandlungen mit der FDP einbringt, ist unklar. Von der CDU-Fraktion in Stuttgart heißt es, das Ergebnis der Verhandlungen würde in der kommenden Woche als „Paket“ verkündet. Vorher will man sich zu nichts äußern. Auch nicht zu dem späteren Schulbeginn. Wenn Oettinger seine Idee jedoch durchsetzt, könnten sich auch andere Bundesländer vom Ausschlafen überzeugen lassen.

In Baden-Württemberg würden allerdings nicht alle über einen Langschlafpassus im Koalitionsvertrag jubeln: Der Lehrerverband ist strikt dagegen. Die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) dagegen und Grüne begrüßen den Vorstoß. Nur sei der Vorschlag bisher wenig durchdacht, heißt es von beiden. „Kein Konzept, die Konsequenzen nicht bedacht, mit niemandem besprochen und ohne Vorschlag für die finanziellen Auswirkungen“, sagt die schulpolitische Sprecherin der Grünen in Baden-Württemberg, Renate Rastätter, dazu. Wahlkämpferin Ute Vogt (SPD) nannte Oettinger einen „Schaumschläger“. Schon jetzt könnten Schulen ihre Anfangszeiten in der Schulkonferenz selbst beschließen, so Vogt.

Einen wissenschaftlichen Verbündeten findet Oettinger in Till Roenneberg, Professor am Zentrum für Chronobiologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Denn Jugendliche würden biologisch bedingt später müde und sollten deshalb später in die Schule gehen. Laut Roenneberg bestimmen zwei Uhren das tägliche Leben: die innere und die äußere Uhr. Die innere Uhr steht für den eigenen Rhythmus. Er bestimmt, wann ein Mensch schlafen will und wann er Leistungshochs hat. Im Unterschied dazu tritt die äußere Uhr den Menschen in Form von Tag und Nacht im 24-Stunden-Rhythmus entgegen. Soziale Zeitsetzungen orientieren sich an der äußeren Zeit. Bei vielen Menschen stimmen aber innere und äußere Zeit nicht überein.

Die innere Uhr, die bei Kindern einen frühen Rhythmus bedingt, verschiebt sich in der Jugendzeit immer weiter nach hinten. Mit ungefähr zwanzig ist der Höhepunkt dessen erreicht – bei Mädchen eineinhalb Jahre früher als bei Jungen. Für Oberstufler ist demnach im Durchschnitt erst um ein bis zwei Uhr nachts die innere Einschlafzeit. Zwischen sechs und sieben Uhr morgens, der üblichen Weckzeit zu Schulzeiten, ist für Jugendliche innerlich kurz nach Mitternacht. Die Folge: permanenter Schlafmangel unter der Woche, der am Wochenende aufgeholt wird – wenn Partys oder Computernächte nicht dazwischenkommen. „Jugendliche sind Dauerfrühschichtarbeiter. Das ist wie bei Erwachsenen, die um vier Uhr aufstehen müssen“, sagt Roenneberg. Eine Anpassung von innerer und äußerer Zeit sei für Leistung und Wohlergehen von Jugendlichen wichtig.

„Meine Elftklässler schlafen noch in der ersten Stunde“, bestätigt Marion Weber (Name geändert) die chronobiologischen Studien. Die Lehrerin in Heilbronn unterrichtet viermal pro Woche in der ersten Stunde, die schon um 7.40 Uhr beginnt. „Meine Siebener sind da morgens schon fitter als die aus der elften.“

Junis und Milena, beide fünfzehn Jahre alt und am Hermann-Hesse-Gymnasium in Berlin-Kreuzberg, gehen mit dem frühen Schulbeginn unterschiedlich um. Junis findet es gut, dass die Schule bereits um acht Uhr anfängt. Er steht, nachdem seine Mutter ihn um sieben geweckt hat, langsam auf und geht direkt zur Schule. „Ich frühstücke morgens sowieso nicht. In der Pause kaufe ich mir dann ein Brötchen in der Cafeteria.“

Milena macht es anders. „Die erste Stunde ist ganz schrecklich“, sagt sie. Sie zwingt sich schon um halb sieben aus dem Bett, um einigermaßen wach zu werden. Dennoch gehe die erste Stunde meist an ihr vorbei. Milena wünscht sich einen Schulbeginn zur dritten Stunde, um halb zehn. Zumindest jeden zweiten Tag müsste die Schule später anfangen. Und – da stimmt auch Junis zu – „Kunst, Musik oder auch Erdkunde in der ersten Stunde sind okay. Aber nicht Mathe.“

In neueren Studien wollen Forscher aus den USA einen Zusammenhang zwischen Schlafmangel und Übergewicht oder einem geschwächten Immunsystem entdeckt haben. Eine Studie der Massachusetts University of Boston beweist, dass niedriges Selbstbewusstsein und Depressionen bei Heranwachsenden auf Schlafmangel zurückzuführen sind – unter anderem.

Ein späterer Schulbeginn bedeutet auf der anderen Seite, dass der Unterricht sich länger in den Nachmittag ziehen müsste. Junis kann der siebten Stunde, die bis Viertel nach zwei geht, nichts abgewinnen: „Das ist echt ätzend!“, sagt er. Nachmittagsunterricht will er auch nicht: „Dann hab ich ja keine Zeit mehr für Projekte wie mein Karate-Training.“ Auch Lehrerin Marion Weber hält nichts von einer Verschiebung des Unterrichts nach hinten: „In Baden-Württemberg haben die Schüler schon jetzt teilweise bis 18 Uhr Unterricht. In der siebten und achten Stunde sind sie wesentlich unkonzentrierter und stören mehr als in der ersten Stunde.“

Bielz-Erman hält den Nachmittagsunterricht für sinnvoller: „Den Oberstuflern an unserer Schule geht es wirklich schlecht. Die sehen morgens immer aus wie kleine Zombies.“ Auch ihrer ältesten Tochter falle das Aufstehen von Tag zu Tag schwerer. „Sie wird abends immer später müde und kann vor 22 Uhr oft nicht einschlafen“, sagt Bielz-Erman.

Dass es auch anders geht, zeigt die Schule von Cornelia Runges Tochter. Sie setzt auf das Ganztagsmodell und dauert von 9.15 Uhr bis 16 Uhr – dieselben Zeiten wie die Kita. Cornelia Runge sagt: „Da sich meine Tochter in der Schule wohl fühlt, sehe ich in dem späten Schulende kein Problem. Und mir kommt es entgegen, weil ich berufstätig bin.“ Die vielen Alleinerziehenden werden ihr sicher Recht geben.