die taz vor zehn jahren über das Sparpaket von kanzler kohl und die stunde der wahrheit
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Nichts mehr mit Konsens. Über Monate hinweg durften die Bürger glauben, so schlimm werde es schon nicht kommen, denn dank der Integration der Gewerkschaften werde das Sparpaket verträglich sein wie eine Aspirintablette: mit nur minimalen Nebenwirkungen. Jetzt haben sich die Gewerkschaften aus den Gesprächen verabschiedet, und die Koalition hat einen Beta-Blocker entwickelt: 20 Prozent Lohneinbuße im Krankheitsfall, das Kindergeld einfrieren, Demontage des Kündigungsschutzes, Rentenalter hoch, Arbeitslosenhilfe kürzen und und und. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen.

Jetzt haben alle ein Problem. Die Bundesregierung muß erklären, was an diesem Sparpaket noch sozial ausgewogen sein soll. Die Gewerkschaften müssen erklären, was sie gegen die Durchsetzung dieses Sparpakets zu unternehmen gedenken. Und wir müssen bedenken, wie wir möglichst überhaupt nicht mehr krank werden.

Jenseits der simplen Feststellung, daß hier ausschließlich bei den sozial Schwächeren gespart werden soll, erhebt sich die Frage, ob der Regierung mit dem Sparpaket der so lange angekündigte große Wurf gelungen ist. Schließlich durchleidet Deutschland derzeit nicht irgendeine Konjunkturdelle, sondern steht vor so schwerwiegenden strukturellen Problemen, wie es sie noch nicht gegeben hat. Und da zeigt sich, daß der Kohlsche Beta-Blocker nicht nur eine Unverschämtheit gegenüber Armen, Kranken und Familien ist, sondern auch jedwede politische Planung vermissen läßt. Wenn demnächst wieder ein paar Milliarden in Waigels Kasse fehlen, dann helfen nämlich keine Herztabletten mehr: Amputationen sind angesagt.

Klaus Hillenbrand, 26. 4. 1996