1. MAI
: Krise abschaffen

Der Polizist sieht nicht die Liebe

Ich bin in einer schwierigen 1.-Mai-Mission unterwegs. Ich skandiere die nicht ganz einfache Parole „Krise ve Irkciligi karsi“. Puh, vier stimmlose i, im Original ohne Punkt geschrieben. Ich habe das auf einem Plakat gesehen und so oft vor mich hingesagt, dass ich schon nach kurzer Zeit nicht mehr weiß, ob das tatsächlich so heißt.

Ich skandiere die Parole, um zu sehen, ob der türkische Mitbürger das gut findet, aber keiner reagiert, keiner wirft mir böse Blicke zu und lobt mich wegen meines Engagements. Niemand scheint es zu interessieren, dass ich „Gegen Krise und Rassismus“ bin. Nur meine Tochter findet es lustig und lacht, was in mir langsam die Überzeugung heranreifen lässt, dass ein so ernsthaftes Bekenntnis auf Türkisch einfach nicht mit dem nötigen Ernst rüberkommt.

Auf der Kottbusser Brücke steht ein Robben-&-Wintjes-Kleinlaster, an dem Transparente mit der Aufschrift „Kapitalismus abschaffen“ angebracht sind. Er ist von Polizisten umringt, Zweimetermännern, die mit ihrer panzerhaften Ausrüstung aussehen, als wären sie einem Video-Ballerspiel entsprungen und würden gleich explodieren. Sie entrollen weitere Riesentransparente, um zu kontrollieren, dass nichts Schlimmes draufsteht, aber es steht überall nur drauf, dass die Krise und der Kapitalismus weg sollen, und der Rassismus auch.

Ich überlege, was dem klobigen Kurzhaargrünen oder der Pferdeschwanzpolizistin wohl durch den Kopf geht bei ihrer Arbeit. Halten sie ihre Tätigkeit für sinnvoll? Glauben sie, das System vor den Chaoten schützen zu können?

Überall stehen Leute herum und gucken zu. Viele machen Erinnerungsfotos. Der große grüne Polizist sieht ausdruckslos auf das große Tuch. Er sieht nicht die Liebe und die große Mühe, die das Transparent die Mütter der Demonstranten gekostet hat.

KLAUS BITTERMANN