AUS DER KIRCHE AUSTRETEN
: Panzermentalität

Gar nicht so schlecht, dass die Mauern hier so dick sind

Tatort Möckernstraße 12. Dort ist das Amtsgericht Kreuzberg. Beim Betreten des wuchtig-kompakten Gebäudes beschleicht mich das Gefühl, besser alle Hoffnung fahren zu lassen. Dabei will ich gar nichts Besonderes vom Amtsgericht, nichts, wofür es keine Hoffnung mehr gäbe, denn ich habe nichts verbrochen, ich habe keinen SUV angezündet, obwohl ich immer wieder mal denke, ooch, diesen blöden SUV würde ich jetzt gern anzünden, um der protzigen Panzermentalität die Luft rauszulassen.

Ich habe auch keine auf der Straße herumtorkelnden Touristen umgefahren, nicht mal einen Fahrradfahrer, der die Straße als Nahkampfgebiet betrachtet. Ich bin immer höflich. Eigentlich weiß ich auch nicht, was mit mir los ist. Vielleicht bin ich einfach zu scheißliberal. Statt angeklagt zu werden, will ich nur aus der Kirche austreten. Ich wusste gar nicht, dass ich da drin bin, bis mich mein Steuerberater darauf aufmerksam machte. Der Mann weiß mehr über mich, als mir lieb ist. Vor mir ist eine Frau mit Handtasche dran. Sie ist von C&A eingekleidet, hat einen Dutt, scharf geschnittene Gesichtszüge, eine Brille und sagt zu der Sachbearbeiterin: „Sie müssen meene Tochter in die Geschlossene einweisen.“ Die Sachbearbeiterin fragt: „Was ist denn mit Ihrer Tochter?“ „Die hat ’n Rad ab“, sagt die Frau wieder, ohne ins Detail zu gehen. Sie sagt das sehr sachlich, ohne die geringste Empathie, und dass Leute zuhören, stört sie nicht. „Und wo ist Ihre Tochter jetzt?“, fragt wieder die Sachbearbeiterin. „Weeß ick nicht. Kommt ja nicht mehr nach Hause.“ Ich schätze, dafür hat die Tochter gute Gründe. Am Ende des langen Flurs halten fünf Beamte gerade einen Mann fest. Er schreit: „Ick will meine Tochter noch ma sehn. Hey, ihr Schweine, ick will mein Kind sehn.“ Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass die Mauern hier so dick sind. Sie müssen viel Elend aushalten. KLAUS BITTERMANN