Kurz vor der Ohrfeige trifft sie einen mitten ins Herz

GALA In diesem Kosmos geht es bunt zu: „Ein Tag mit Sibylle Berg“ war in Berlin zu erleben. Die Autorin hatte viele Freunde mitgebracht

Die Metamorphose dauert sechs Stunden. Danach ist auch aus dem letzten Besucher eine Figur geworden, die ganz nach dem Geschmack von Frau Berg sein dürfte. Verloren, verängstigt, verstört.

„Ein Tag mit …“ heißt die neue Veranstaltungsreihe der Berliner Festspiele, bei der jeweils ein Künstler und sein Kosmos präsentiert werden sollen. Den Auftakt machte am Sonntag Sibylle Berg, Schriftstellerin, Kolumnistin und Dramatikerin, die auf Twitter behauptet, sie „kaufe nix, ficke niemanden“, im Programm dann aber doch angeblich einige Prominente, darunter Thea Dorn und Volker Beck, gekauft hat. Außerdem, glaubt man der Ansage auf einer der Leinwände, hat sie gerade Geschlechtsverkehr mit Olli Schulz. Aber glauben darf man ihr natürlich kein Wort.

Sibylle Berg selbst ist übrigens nirgends zu sehen, jedenfalls nicht in echt, aber zumindest ihre prominenten Freunde mischen sich unters einfache Volk. Katja Riemann erscheint mit ihrem Patenkind auf den Schultern, Helene Hegemann unterhält sich mit einer älteren Dame. Das Patenkind entert die Kritikerbox, in der Wolfgang Höbel Wunschrezensionen für mitgebrachte Kulturgüter vornimmt. Auf der Bühne nebenan covert die Sängerin Kaey Radiohead, und da, auf der Leinwand, spricht Sibylle Berg mit Volker Beck. Es sieht schön aus, ist aber leider ohne Ton. Sicher reden sie trotzdem über wichtige Dinge. Später erzählt uns jemand, dass das Gespräch weiter hinten, auf einer anderen Leinwand, mit Ton übertragen wird. Also schnell hin.

Mittlerweile sitzt auch Carolin Emcke mit auf der Couch und Sibylle Berg schenkt Marillenschnaps aus. „Wie viel trinkt man denn so als Alkoholiker?“, fragt sie in die Runde. Im Hintergrund ertönen Geräusche, die sich verdächtig nach Sex anhören, und irgendwann fragt Carolin Emcke, was denn da so fiept. „Helene Hegemann sein Hund“, sagt Frau Berg. Und dass sie mal mit ihm raus muss.

Frau Berg kommt mit Thea Dorn wieder und bietet ihr Kokain an. „Das reibt man sich doch unter die Vorhaut, oder?“ Dann singt Kat Frankie auf der Bühne nebenan und Frau Berg schickt die Zuschauer dorthin. Einige folgen ihrer Anweisung.

So geht das weiter. Schließlich, um 20 Uhr, das große Ganze. Oder: die Silvestergala. Auf der Leinwand läuft der Untergang der Titanic rückwärts, dazu singen Sarah Brightmann und Andrea Bocelli „Time to say goodbye“. Schnitt. Ein Pandabär, ein Babyaffe, untermalt von „Life is life“. Sibylle Berg betritt die Bühne, sie trägt Schwarz und eine Handtasche und sieht aus, als würde sie gerne gleich wieder gehen. Gut, dass Olli Schulz dabei ist, denn die beiden sind womöglich Geschwister im Geiste, oder sie haben einfach sehr gut geprobt. Jeder Satz ist eine Pointe, was erfreulich ist nach der unsortierten Reizüberflutung im Vorfeld. Olli Schulz beleidigt charmant die Zuschauer („Ich schaue hier in sehr viele einfache Gesichter“), während Sibylle Berg ihm mütterlich die Schuhe zubindet. Sie erklärt, dass sie oft gefragt werde, warum sie immer so depressiv sei. „Und dann guck ich und dann verstehen es alle.“

Beide Moderatoren zeigen, dass sie Spagat können („Wir haben sehr weiches Bindegewebe“), und Frau Berg sinniert übers Außenseitersein. Früher habe man gesagt, der hat einen an der Waffel, heute hat man ADHS. „Man bildet heute gerne Randgruppen.“ Der Schauspieler Matthias Brandt liest aus ihrem Roman „Vielen Dank für das Leben“. Es ist ein schlimmes Buch, nach dem man sich umbringen möchte, weil die Welt so schlecht ist, und als endlich eine der typischen Berg-zynischen Stellen kommt, entleert sich die Anspannung in Gekicher über die jungen emanzipierten Frauen in zu kurzen Röcken, die kein Sexobjekt sein wollen, sondern „einfach den Luftzug am Hintern mochten“. Es ist so wie immer: Berg trifft mitten ins Herz, und danach kriegt man eine Ohrfeige.

Am Ende werden noch die Fragen vorgelesen, die die Besucher stellen durften. Warum Heinz Strunk eigentlich nicht da ist? Olli Schulz weiß es: Der musste einen Baumarkt einweihen, der eigentlich ein Schuhhaus ist. Welche ist die schlimmste deutsche Stadt? Wien. Ihre Heimatstadt Weimar habe sich nicht verändert. Wobei, doch: Es gibt dort jetzt Sushi. Können Sie erklären, warum es auf solchen kulturellen Veranstaltungen immer trockene Brezeln gibt? Nein.

Es gibt immer den, der die Funktion des nutzlosen Gastes hat, hat Sibylle Berg irgendwann im Laufe des Abends gesagt. Angesichts des unübersichtlichen Promiauflaufs wusste am Ende aber auch der Besucher, wie es sich anfühlt, nutzlos zu sein. Und taumelt am Ende nach draußen und sucht den Weg zurück in die Welt, die er kennt. Mit unspektakulären, normalen Freunden, ganz ohne Bling-Bling.

FRANZISKA SEYBOLDT