„Berlin hätte ein Riesenproblem“

Das Bundesverfassungsgericht muss einen Maßstab entwickeln, was Berlin an Sparanstrengungen zumutbar ist, sagt der Finanzexperte der PDS-Fraktion, Carl Wechselberg. Ein negatives Urteil würde Berlin in die Bredouille bringen

taz: Herr Wechselberg, Sie waren gestern bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Hat Berlin Chancen, Hilfen zu bekommen?

Carl Wechselberg: Aus einem Ausschnitt aus einer Verhandlung heraus eine Prognose abzugeben, ist immer riskant. Bemerkenswert ist das hohe Niveau der finanzverfassungsrechtlichen Debatte, und zwar auf allen Seiten. Bemerkenswert ist auch, dass das Gericht sehr ernsthaft Fragen an alle Seiten stellt, wie die Berliner Krise zu lösen sei.

Die Berliner Finanzkrise ist also unstrittig?

Die extreme Haushaltsnotlage, in der sich Berlin befindet, wird im Grundsatz nicht bestritten. Die schwierige Frage ist eher, wie sich Berlin im Verhältnis zu den anderen Ländern und zu den Möglichkeiten des Bundes stellt. Es wird auch die Aufgabe des Gerichtes sein, einen Maßstab zu entwickeln, was Berlin an Eigenanstrengungen zuzumuten ist und wo Berlin Unterstützung braucht.

Wird das Gericht diese Maßstäbe setzen?

Nach viereinhalb Jahren Haushaltspolitik gehe ich mit einem klaren Standpunkt in solch eine Verhandlung: Berlin hat das Mögliche getan, weil uns nicht zugemutet werden kann, eineinhalb Universitäten dichtzumachen. Wir könnten es tun, aber es wäre nicht sinnvoll – auch nicht unter Berücksichtigung unserer Haushaltsnotlage. Wir verlangen ja nicht mehr Geld zum Mehrausgeben. Wir wollen nur die Lasten der Vergangenheit, die in Gestalt der 60 Milliarden Euro Schulden da sind, zum Teil finanziert bekommen. Das ist ein qualitativer Unterschied, den das Gericht würdigt.

Warum kann man Berlin nicht zumuten, weitere Wohnungen zu verkaufen?

Die Aufgabe eines Bundeslandes ist es auch, den sozialen Zusammenhalt in einer Stadt zu sichern. Dem dienen auch bezahlbare Wohnungen; deshalb sollte ein Bundesland hier eine gewisse Daseinsvorsorge erhalten.

Braucht Berlin drei Unis?

Natürlich könnten wir eine Uni schließen. Für Berlin ist es aber eine Chance, über die Wissenschaft seine ökonomische Basis zu reorganisieren. Wenn man uns dieses Potenzial nimmt, verbleibt Berlin dauerhaft in einer strukturellen Krise.

Wie rechtfertigen Sie die relativ gute Ausstattung Berlins mit Kinderbetreuungseinrichtungen? Sie ist zum Teil besser als in manchem Geberland.

Die Ausstattung ist tatsächlich im Bundesvergleich sehr gut, auch wenn das in Berlin viele nicht wahrhaben wollen. Die gesamte bundespolitische Diskussion geht aber zu Recht in die Richtung, das Berliner Niveau der Versorgung anzustreben. Da macht es keinen Sinn, dass Berlin sein Niveau abbaut.

Wie würde ein Urteil – sollte es noch vor der Sommerpause verkündet werden – die Abgeordnetenhauswahl im September beeinflussen?

Das Urteil verändert die Koordinaten der Berliner und der bundesweiten Finanzpolitik für mindestens zehn Jahre – unabhängig vom politischen Standpunkt. Ein positives Urteil würde die rot-rote Haushaltspolitik stärken, bei einem negativen hätte Berlin ein Riesenproblem.

Würde Berlin in diesem Fall ein Armenhaus werden?

Wenn man den Lebensstandard in Berlin dramatisch absenkte, ließe sich die Schuldenproblematik begrenzen. Die Frage ist aber, ob das unter zumutbaren Bedingungen für die Berliner geschieht – und zwar im Vergleich zu den Lebensbedingungen in anderen Bundesländern. Unser Anspruch ist: Es steht nicht nur auf dem Papier in der Verfassung, dass die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik halbwegs vergleichbar sein müssen, sondern das muss auch Realität sein. Deshalb ist uns nicht zuzumuten, in einem technokratischen Sinne alles zusammenzustreichen, was theoretisch kürzbar wäre.

INTERVIEW: RICHARD ROTHER