Medien-Fallout

Der 20. Jahrestag der Katastrophe provozierte ein gewaltiges Tschernobyl-Gewitter. Havarieorden am Bande für die „Zeit“ und den „Tagesspiegel“

VON MANFRED KRIENER

Der Medien-Fallout des 20. Tschernobyl-Jahrestages war gewaltig. Ganze Busladungen von Journalisten waren schon im Vorfeld in die Ukraine gereist, um mit frischen Eindrücken vom Unglücksreaktor die Reportageseiten zu füllen. Noch einmal tickten die Geigerzähler, noch einmal zeigten die Strahlenopfer ihre kahlen Schädel, noch einmal wurde die Anatomie der Katastrophe nachgezeichnet, wurden die Toten gezählt und verlassene Geisterstädte besichtigt.

„Grusel-Tourismus“ nennen das die Besserwisser. Aber was können solche Jahrestage anderes leisten, als die Erinnerung zu mobilisieren – mittendrin in der aktuellen Auseinandersetzung über Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke und einen explodierenden Ölpreis.

Die heftige Berichterstattung war auch ein Indiz dafür, wie tief sich der zerfetzte Reaktor in das Bewusstsein der Moderne eingegraben hat. Tschernobyl gehört auf ewig zu den historischen Lektionen über die Segnungen der Atomkraft und die Verschleierungs- und Geheimhaltungsstrategien der AKW-Betreiber und Politiker. Bis hinunter zu den kleinen Regionalzeitungen wurden ganze Wochenendbeilagen voll geschrieben, wie das nur bei großen „Jubiläen“ der Fall ist. Offenbar brauchen wir solch kollektive Erinnerungstage, um unsere Empathie aufzufrischen.

Die heimlichen Medienstars des Jahrestags waren zwei Fotografen: der frühere Fotoreporter der Nachrichtenagentur Nowosti, Igor Kostin, und der kanadische Fotograf Robert Polidori. Kostin war der erste Fotograf, der seine Kamera aus dem Hubschrauberfenster auf den explodierten Reaktor gerichtet hatte, und er hat wie kein anderer 20 Jahre lang die Folgen der Katastrophe dokumentiert. Polidori hat anders als Kostin keine Menschen, sondern den verlassenen Tatort fotografiert. Evakuierte Orte, die Architektur der Flucht. Polidoris gespenstisch leerer Kontrollraum von Block vier ist das am häufigsten gedruckte Foto dieses Jahrestages.

Die Versuche, Tschernobyl umzuschreiben und den Schock von 1986 als Hysterie zu diffamieren, war nur noch in Ausnahmefällen zu beobachten. Natürlich durfte Öko-Oberoptimist Michael Miersch nicht fehlen. Der frühere taz-Schreiber, der seine Lebensaufgabe darin sieht, Klima-, Atom- und andere Umweltkatastrophen aufzuhübschen und die Umweltbewegung als Ansammlung hysterischer Vulgärapokalyptiker zu enttarnen, versuchte es diesmal per Welt-Interview. Doch so suggestiv er auch bettelte („War der größte Unfall in der Geschichte der Atomkraft halb so schlimm?“) – die Einschätzung, dass Tschernobyl nur ein ukrainischer Furz im Frühlingswind war, wollte sein Gesprächspartner nicht teilen.

Den sowjetischen Havarieorden am Bande für die nachträglich erfolgreichste Liquidation der Katastrophe gebührt allerdings der Zeit. Ihr Herausgeber Josef Joffe glänzte im Berliner Schwesterblatt Tagesspiegel (beide gehören dem Holtzbrinck-Konzern) – mit der präzisen Auskunft, dass die Katastrophe „aufgrund der Explosion und Folgeschäden“ 125 Tote in der Ukraine gefordert habe, „in der Umgebung wurden an die 1.800 Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern gemeldet, die fast alle geheilt werden konnten“. Joffe war dort und hat sie persönlich gezählt. Er verlangte, „etwas genauer die Fakten zu betrachten“, und keiner hat gelacht. Ausführlicher durfte dann im Mutterblatt Gero von Randow ran. Randow, seit Jahren verlässlicher Bauchredner für die „Renaissance der Atomenergie“, die er meist in den Tiefen der chinesischen Energiepolitik wittert, wiederholte nicht nur die inzwischen mehrfach korrigierte Falschmeldung von 4.000 Tschernobyl-Toten (5.000 weitere Tote waren in der Pressemitteilung der WHO „vergessen“ worden). Er relativierte die Katastrophe zudem mit dem Hinweis, dass „im chinesischen Kohlebergbau Jahr für Jahr mehr Menschen sterben“.

Das erinnert fatal an den langjährigen Hauptgeschäftsführer der deutschen Elektrizitätswirtschaft, Joachim Grawe, für den Tschernobyl „in der Geschichte der Technik kein herausragendes Ereignis“ ist. Grawe sagte früher schon: „Wer Kernkraftwerke verbieten will, der muss auch Streichhölzer verbieten.“ Solche Erhellungen waren aber eher die Ausnahme. Es scheint: Je größer der Zeitabstand zu Tschernobyl wird, desto klarer werden die Umrisse dieser Katastrophe. Und desto schwieriger wird es, sie zu entsorgen.