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Film ab, was dich zerstört

Die Familie ist nicht jener Fels in der Brandung, als der sie durch die aktuelle Debatte geistert:der Experimental-Tagebuchfilm „Tarnation“ von Jonathan Caouette zeichnet ein ganz anderes Bild

VON CRISTINA NORD

Manche Filme verdienen etwas Besseres. Einen bundesweit einheitlichen Starttermin mit 20 oder 30 Kopien, Vorabwerbung in Programmkinos und auf Plakaten, breite Wahrnehmung im Feuilleton. „Tarnation“ von Jonathan Caouette ist ein solcher Film. Doch leider ist ihm das Schicksal beschieden, das kleine Produktionen in Deutschland so oft ereilt – und das ganz ohne böse Absicht des Verleihers. Über lange Zeit hinweg war „Tarnation“ auf den Startlisten für den heutigen Tag eingetragen. Vom einen auf den anderen Tag verschwand er, Pressevorführungen gab es nicht. Im aktuellen tip, dem Berliner Stadtmagazin, ist trotzdem ein Interview mit dem Regisseur abgedruckt, und auf einigen Startlisten taucht der Film wieder auf. Tatsächlich läuft er ab heute eine Woche lang mit einer Kopie in einem Berliner Kino; dann verschwindet er für einen Monat von den Leinwänden. Am 8. Juni kehrt er zurück, dann mit einer größeren Zahl von Kopien. Fest steht so viel: „Tarnation“ verdient ein großes Publikum – nicht zuletzt, weil Caouettes Film einen wichtigen Beitrag zur Debatte um Familie und Werte darstellt.

„Tarnation“ – das seltene Wort heißt „verdammt!“, „verflucht!“ – ist ein Hybrid aus Experimental-, Tagebuch- und Essayfilm. Er kreist um Renee Leblanc, die Mutter des Filmemachers. Mit 14 ist Renee ein bildhübscher Teenager in einer texanischen Kleinstadt; in ihrer Freizeit ist sie als Model für Versandhauskataloge tätig. Als sie beim Spielen vom Dach des elterlichen Einfamilienhauses stürzt, sind ihre Beine gelähmt. Nach einem halben Jahr kommen die Ärzte auf den Gedanken, die Lähmung „sei nur in Renees Kopf“, und behandeln sie mit Elektroschocks. Seither ist sie nie wieder ganz zu sich gekommen; ihre Leben besteht aus einer traurigen Abfolge von Psychiatrieaufenthalten, Psychopharmaka, Drogen und Misshandlungen. Bevor „Tarnation“ einsetzt, hat sie eine Überdosis Lithium genommen und liegt auf der Intensivstation. Ob sie überleben wird, ist zu diesem Zeitpunkt unklar.

Anfang der Siebziger heiratet Renee Jonathans Vater. Die Ehe geht rasch in die Brüche; der Mann macht sich davon, bevor er wissen kann, dass Renee schwanger ist. Jonathan Caouette begegnet seinem Vater zum ersten Mal, als er 30 ist. Sein Leben verläuft in ähnlich unregelmäßigen Bahnen wie das seiner Mutter. Bis ihn die Großeltern adoptieren, wächst er in Pflegefamilien auf. Als er 14 ist, raucht er während eines Besuchs bei seiner Mutter einen Joint, der mit halluzinogen Substanzen angereichert ist. In der Folge leidet er an einer psychischen Störung, sodass ihn die Großeltern in die Psychiatrie einweisen lassen, wie sie es schon mit ihrer Tochter taten.

Zugleich aber hat Jonathan Caouette etwas, was ihm Halt gibt: seine Super-8-, Video- und Fotokameras. Seit er elf ist, nimmt er seine Familie, seine Freunde und sich auf. Er inszeniert kleine Dramen, Home Movies und sich selbst vor laufender Kamera, er dreht selbst gebastelte Splatterfilme namens „Spit and Blood Boys“. In der Schule bringt er David Lynchs „Blue Velvet“ auf die Bühne, er entdeckt Punk und Andy Warhol, Horrorfilme und New Wave. Diese Mischung aus pop- und subkulturellen Bezügen hilft ihm durch die Pubertät. In einer der beeindruckendsten Szenen des Filmes sehen wir den Elfjährigen, wie er als misshandelte Hausfrau vor die Kamera tritt. Er trägt eine Kittelschürze, das Haar fällt ihm strähnig in die Stirn, er zupft nervös daran, seine Augen sind dick mit Kajal umrandet: „I’ve been through hell.“

Es liegt nahe anzunehmen, der Elfjährige agiere in der Performance eigene leidvolle Erfahrungen aus. Anhaben freilich können ihm diese Erfahrungen nichts mehr. Eine solche bannende Funktion fällt dem ganzen Film zu: Indem er ihn dreht, hält sich Jonathan Caouette die Gespenster der Vergangenheit vom Leib. Entstanden ist „Tarnation“ am heimischen Computer. Caouette hat das Video- und Super-8-Material digitalisiert und anschließend durch sein Schnittprogramm gejagt. Ohne die Kosten für Copyright, Vertrieb und Marketing habe der Film, so geht zumindest die Legende, nicht mehr als 218 Dollar gekostet.

Dabei überrascht, wie wenig der Filmemacher sich und seine Familie schont. Das in 20 Jahren angesammelte Filmmaterial zeigt die zahnlose Großmutter als Hauptdarstellerin in Horrorfilmen, den Großvater im verwahrlosten Haus, den posierenden Jonathan in aberwitzigen Verkleidungen (dass er schwul ist, ist vor diesem Hintergrund eine Selbstverständlichkeit, nichts, was der Film eigens thematisieren wollte), die Mutter, die wie ein Kind singt und tanzt.

Als wiederkehrende Stilelemente nutzt „Tarnation“ drei Verfremdungsmechanismen: Ein Standbild wird ins Unendliche multipliziert, sodass beispielsweise der Fotostreifen, der Renee mit dem drei Jahre alten Jonathan zeigt, vervielfältigt wird, bis die Köpfe der Figuren nur mehr winzige Punkte sind. In anderen Szenen spiegelt Caouette die Bilder in sich. Beim Close-up eines Gesichts zum Beispiel liegt die Achse der Spiegelung auf der Linie der Augen. An dieser Achse wird das Bild gewissermaßen eingerollt. Das sieht aus, als befände sich hinter der Leinwand ein Saugrohr, das das abgebildete Gesicht verschlingt, die vollständige Deformation des Dargestellten ist die Folge. Schließlich färbt Caouette das Material für Sekundenbruchteile ein oder nutzt blitzhafte Überbelichtungen, wenn von besonders traumatischen Dingen wie den Elektroschocks die Rede ist.

Beeindruckend daran ist, dass Caouette die Fallstricke seiner Erzählung souverän umgeht. Seinen Narzissmus stellt er offensiv aus; weder verfällt er dem Selbstmitleid, noch legt er Wert auf simple Konfrontationen. Dabei wäre genau dies so einfach gewesen: einerseits die schillernde Devianz seiner Mutter, andererseits die Tristesse kleinbürgerlichen Provinzlebens, einerseits seine jugendliche Rebellion, andererseits eine heteronormative Umwelt. „Tarnation“ überwindet das Denken in Dichotomien, indem er eine für den Tagebuchfilm ungewöhnliche Distanz herstellt – allein schon dadurch, dass in den Texten, die die Familiengeschichte referieren, keine „Ich“-Perspektive vorkommt, sondern die dritte Person die Rede bestimmt. Auch lässt Caouette zu, dass seine Position als Filmemacher in Frage gestellt wird: Gegen Ende des Filmes wehren sich sowohl Renee als auch der Großvater gegen die Kamera, gegen die insistierenden Fragen, gegen die Verwertung ihrer Geschichten. Man kann ihren Unwillen gut nachvollziehen – genauso wie Caouettes Wunsch, die Kamera nicht abzuschalten.

In seinen rasenden Bilderfolgen liefert „Tarnation“ reichlich Anschauungsmaterial dafür, dass die Familie nicht zwingend jener Fels in der Brandung ist, als den sie sich Ursula von der Leyen imaginiert. Im Gegenteil: Je mehr Caouette die Abgründe und Versehrungen seiner eigenen Familiengeschichte erkundet, umso weiter dringt sein Film zum wunden Punkt des gegenwärtigen Wertediskurses vor. Familie kann verletzend, sie kann sogar gewalttätig sein, und erst wenn man davon ein Bewusstsein gewinnt, kann man verlässliche Bindungen eingehen. In Caouettes Film entsprechen dem die Arrangements fragiler Harmonie von Mutter, Sohn, dessen Lebensgefährten David und dem lange verschollenen Vater: Auf dem Sofa in Caouettes New Yorker Apartment finden sie schließlich alle zusammen. Das freilich hat eher mit Wahlfamilie und prekären Gleichgewichten zu tun als mit dem Nukleus von Vater, Mutter und Kind.

„Tarnation“, Regie: Jonathan Caouette. Mit Jonathan Caouette, Renee Leblanc u. a., USA 2003, 105 Min.

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