Die Tarife bröseln

Immer mehr Menschen arbeiten ohne gewerkschaftlich verhandeltes Salär. Böckler-Stiftung fordert Mindestlohn

BERLIN taz ■ Die Zahl derer, die nach einheitlichen Tarifverträgen entlohnt werden, schrumpft. „Die heile Welt des Flächentarifs wird peu à peu verabschiedet“, sagte der Chef des Tarifarchivs der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, Reinhard Bispinck, bei der Präsentation des „Tarifhandbuchs“. Dennoch zeigte er gestern Optimismus. Er wolle „nicht ausschließlich deprimierende Ergebnisse“ präsentieren, sagte Bispinck. Die Tariflandschaft sei „bunt gescheckt“.

Mittlerweile werden – ausgehend von 90 Prozent Ende der 80er-Jahre – nur noch 61 Prozent der Lohnarbeitenden West und 41 Prozent im Osten gemäß Branchentarif bezahlt. Für die übrigen gilt, dass ihre Arbeitgeber sich immerhin etwa zur Hälfte am Tarif noch „orientieren“.

Die Arbeitgeberverbände bieten ihren Mitgliedern „tariffreie“ Mitgliedschaften an. Gleichzeitig wuchern die „tariflosen Zustände“: Verträge laufen einfach aus, ohne dass neu über Lohnerhöhungen verhandelt würde – etwa in der gesamten Bekleidungsindustrie Ost seit 1996. Weil die Flächentarife immer mehr Klauseln enthalten, die in Betrieben unterschiedlich verwendet werden, wird auch deren Durchsetzung aufwändiger und gelingt teils nicht mehr.

Diese Flexibilisierung – wie jüngst die Einmalzahlung von 0 bis 620 Euro für die Metaller – könnte in den Betrieben laut Bispinck aber auch zu einer Art „Restabilisierung der Verhältnisse von unten“ führen: Wenn die Belegschaften die Verträge nachverhandeln müssten, schaffe dies Transparenz.

Angesichts von ganz tariffreien Bereichen etwa in der Landwirtschaft oder auch tariflichen Armutslöhnen wie bei den Friseuren plädierte Bispinck für einen gesetzlichen Mindestlohn. Wer wie Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) auf branchenweise erhandelte Mindestlöhne setze, „legt ein Modell mit Fehlern und Lücken vor“. UWI