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betrachtet das Treiben auf Berlins Bühnen

ESTHER SLEVOGT

Die Erfindung der Avantgarde ist ja nun auch schon hundert Jahre her. Damals, in den Jahren um den Ersten Weltkrieg, wurde in allen Künsten heftig an der Erneuerung der Künste gestrickt. Das hat besonders die Bürger sehr schockiert. So viel Angst, denkt man manchmal heute, hat ihnen selbst der Weltkrieg damals nicht eingejagt. Auch die Erfindung des modernen Tanzes geht in diese Jahre zurück. 1917 entwickelte beispielsweise der Komponist Erik Satie gemeinsam mit Pablo Picasso als Ausstatter und dem Choreografen Leonide Massine (der zu Diaghilevs legendärem Ballet Russes gehörte) den Tanzabend „Parade“, bis heute ein Meilenstein der Avantgarde: Es geht um Schausteller aus verschiedensten Ländern, die auf der Straße vor einem Rummelplatz versuchen, mit Kunststücken ein Publikum anzulocken. Zwei Manager machen die Reklame. Ein Zauberkünstler und ein Akrobatenpaar zeigen ihre Attraktionen. Ein amerikanisches Mädchen kommt vorbei und fotografiert. Das Publikum bleibt jedoch aus. Adam Lindner, der vom HAU als Rapper und Choreograf vorgestellt wird, zeigt dort ab Freitag nun seine Neuinterpretation dieser interdisziplinären wie bahnbrechenden Arbeit, die einst Jean Cocteau initiierte (HAU 3: „Parade“, 18., 19., & 20. 10, jeweils 19 Uhr).

Auch auf anderen Bühnen der Stadt dominiert in dieser Woche der Tanz. Unter anderem in den Sophiensælen, wo sich der israelische Choreograf Nir de Volff mit den körperlichen Niederschlägen der allgegenwärtigen Krise, den physischen Symptomen der Angst, die sie uns macht, auseinandersetzen wird. „Diary of a Lost Decade“ ist das Vorhaben überschrieben (Sophiensæle: „Diary of a Lost Decade“, 17.–19. & 20. 10., jeweils 19 Uhr).

In der Volksbühne steht am Montag noch einmal Christoph Marthalers abgründige Inszenierung von Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ auf dem Spielplan, deren alte Geschichte von der jungen Frau, die aus Not ihren Körper schon zu Lebzeiten der Gerichtsmedizin verkauft, so gespenstisch auf unsere prekäre Gegenwart und ihre Ängste und Zwänge verweist und den biblischen Titel ad absurdum führt, der aus dem berühmten ersten Paulusbrief an die Korinther stammt (Volksbühne: „Glaube Liebe Hoffnung,“, 21. 10., 19 Uhr).

„Protect me“ rufen folgerichtig Falk Richter und Anouk van Dijk mit ihrer gleichnamigen Choreografie in die wachsende Dunkelheit dieser Tage, der nun wieder in der Schaubühne zu sehen ist. Der Abend begibt sich auf die Suche nach Verlässlichkeit und Vertrauen, nach Menschen, die sich überhaupt noch lieben lassen in dieser kalten Zeit (Schaubühne: „Protect me“, 18. & 19. 10. jeweils 20 Uhr).

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