Bildungsfern? Walla!

THEATER Das Festival „Festiwalla“ am Haus der Kulturen der Welt räumt mit den verbreiteten Vorurteilen über angebliche „Bildungsverlierer“ auf: Jugendliche organisieren sich selbst, um das Wort zu ergreifen

Fern der Bildungselite und jenseits medialer Aufmerksamkeit findet kulturelle Bildung anderer Art statt. Banden bilden! Pädagogische Kollektive von unten ersetzen pädagogische Korrektive von oben. Gebildet wird in Aktion und Reflexion, zehn Theaterproduktionen, im Bildungscamp, Erdkunde ohne Grenzen, Filmen und der Workshopreihe „ReMiX: Kunst, Kontrolle und Konterkultur“. Am Donnerstag startet um 8.30 Uhr am Potsdamer Platz die Protestparade „KulTür auf!“ gegen das Label der Bildungsferne.

■ Festiwalla 2013 – noch bis zum 19. 10., Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Eintritt frei. Programm und Informationen: www.grenzen-los.eu

VON ANTONIA HERRSCHER

Bürgerliches Engagement ist gefragt. Gerade in Zeiten knapper Kassen. Wo Gelder für die Pflege öffentlicher Flächen fehlen, drückt die Stadt gern mal ein Auge zu, wenn die Bürger Stiefmütterchen in Baumscheiben pflanzen oder Künstler im öffentlichen Raum produzieren.

Schwieriger wird es, wenn Engagement zum Widerstand wird und Partizipation und Selbstbehauptung einfordert. Am ehesten wird da noch mit „Leistungsträgern“ verhandelt. Mit denen, die etwas haben, weil sie etwas geleistet haben. Bei den unteren sozialen Schichten, den „Bildungsverlierern“, so meinen viele, gibt es so etwas wie Selbstbehauptung und Engagement ohnehin nicht.

Was aber, wenn jene, über die da in Abwesenheit gesprochen wird – etwa die „bildungsferne“ Jugend aus den „gesellschaftliche Randlagen“ mit Migrationshintergrund –, die Debatte in die Hand nimmt, „die da oben“ nicht mehr nach Erlaubnis und Förderung fragt und ihr Recht auf Zukunftsgestaltung einfordert? Das Bildungssystem, in dem sie die Verlierer sein sollen, anzweifelt und sich selbst organisiert?

„Dann macht das Angst!“, so Ahmed Shah, künstlerischer Leiter des Theaterfestivals Festiwalla 2013, das in diesem Jahr zum dritten Mal ins Haus der Kulturen der Welt einlädt und die Frage aufwirft: „Wer ist hier bildungsfern?“

Es geht nicht um Inklusion oder Integration, sondern um Selbstbehauptung

Mit dem Begriff „Bildungsferne“ bezog sich Aldous Huxley im Roman „Schöne neue Welt“ bereits in den 1930er Jahren auf einen Bildungsbegriff, der vor allem das Funktionieren der Individuen innerhalb der Gesellschaft ermöglichen soll – das in den Bildungseinrichtungen vermittelte Wissen soll den Menschen vor allem für das System verwertbar machen. In der „Schönen neuen Welt“ soll das Subjekt nicht eigenständig denken, sondern: konsumieren und funktionieren.

Schon im 19. Jahrhundert wurde mit dem Begriff „Halbbildung“ verächtlich auf jene herabgesehen, die aus den unteren Schichten des Bürgertums gesellschaftlich aufstiegen. Schulbildung gleicht weder familiär bedingte Mängel aus noch befähigt oder berechtigt es zur Eigenständigkeit.

Soll sie auch nicht. Kritische Überprüfung überlieferter Geschichte und Kultur ist in Schulen bis heute unerwünscht, so eine These des Theaterkollektivs Festiwalla. Der von oben geführte bildungsbürgerliche Diskurs ist zu einem endlosen Klagelied über „bildungsferne“ Schichten geworden. Damit gelingt zudem klammheimlich, die Verantwortung für geringere Zukunftschancen abzuschieben. „Die“ sind von Haus aus schwierigere Fälle. Ihrer Herkunft wegen.

Diesen Konsens sucht das Festiwalla zu erschüttern. Als „Geschichtsunterricht von unten“ spielt das Regiestück „Schwarzkopf BRD“ die Frage durch: Was würde der afroamerikanische Bürgerrechtler Malcolm X – schärfster Kritiker des friedlichen Widerstands Martin Luther Kings – heute dazu sagen? Dem Regiekollektiv fielen bei der Recherche die Analogien zwischen dem amerikanischen Rassismus und den Morden der rechtsradikalen NSU geradezu vor die Füße. Also: „Aus der Vergangenheit lernen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten!“

Kritische Überprüfung überlieferter Geschichte ist in Schulen bis heute unerwünscht

Neben den Berliner Produktionen sind weitere Theatergruppen eingeladen. „Lebende Objekte“ aus Köln machen sich im Planspiel „Life in Progress“ auf die Suche nach Utopien. „Gott und die Welt und Ich“ aus Hamburg – etliche unter ihnen Flüchtlinge – stellt die Frage nach dem Zuhause. Teatro Trono aus Bolivien widmet sich in „Bis zum letzten Tropfen“ der Verteilungsgerechtigkeit am Beispiel von Wasser. Das ganztägige Programm wird von Workshops, Filmen und Buchvorstellungen begleitet, die Zukunftschancen ausloten.

Festiwalla ist aus dem „JugendtheaterBüro Berlin“ in Moabit entstanden. Mit „Bühne 21“ und „Kultür auf!“ entstanden zuletzt noch zwei weitere Projekte, die ausdrücklich nicht „sozial“ sein wollen. Es geht nicht um Inklusion oder Integration, sondern um Selbstbehauptung. In einem Planspiel wurden Formen der Zusammenarbeit erprobt, es wurde experimentiert. Nun werden Genossenschaften gegründet. Ein Bündnis mit dem Deutschem Theater und der Schaubühne besteht schon länger.

Am Samstag ist die Premiere des Films „Do Butterflies have Borders?“, der die Entstehung einer Theaterperformance dokumentiert, die Flüchtlinge Anfang des Jahres im Erstaufnahmelager Spandau realisiert haben. Seitdem ist Ibrahema Balde, der kurz zuvor aus Guinea geflüchtet war, fester Bestandteil des Regiekollektivs. Vergangene Woche bekam der 17-Jährige Bescheid, er habe sich zur Bearbeitung seines Asylantrages nach Dortmund zu begeben. Damit verliert er nicht nur seine ersten, in Berlin geknüpften Kontakte in Deutschland. Ahmed Shah bringt es auf den Punkt: „So können wir doch nicht arbeiten!“